Gewalt und Protest: ein Nach- und Neudenken
Blog-Eintrag
von Pascal Kohler, Lea Dora Illmer
BlogPost Ein strahlend blauer Himmel, spätsommerliche Temperaturen, eine lebensbejahende Geräuschkulisse und ein Gebäude, das mit Retro-Charme an das eigene Klassenzimmer erinnert. Auf den ersten Blick verrät das Setting nicht, um was es bei der diesjährigen Tagung der Schweizerischen Gesellschaft für Geschlechterforschung (SGGF) gehen soll: «Violent Times, Rising Protests. Strukturen, Erfahrungen und Gefühle». Ein Tagungsbericht, der zeigt, wie ein Nach- und Neudenken über Gewalt und Protest aussehen kann. Andauernde Kriege, der voranschreitende Rechtsrutsch, Hassrede im Internet oder «Wutbürger*innen»: Wir leben in einer Zeit der Gewalt. Trotz der Tatsache, dass Gewalt seit jeher einen Teil unserer Moderne bildet, erfährt eine wachsende Anzahl von Menschen unsere Zeiten als besonders gewaltvoll. Die am 12. und 13. September in Bern stattfindende Fachtagung «Violent Times, Rising Protests. Strukturen, Erfahrungen und Gefühle» nahm sich dieser Thematik an. In 23 Panels, 88 Präsentationen und zwei Keynotes wird entschlüsselt, wie die verschiedenen Formen von Gewalt entstanden sind und zusammenhängen, wo Gewalt als strukturierendes Prinzip fungiert und welche kreativen Formen des Protests sie wiederum begleiten und herausfordern. Denn gerade weil Gewalt für die meisten Staaten und Gesellschaften, ihre Geschlechterordnungen, familialen Strukturen und ökonomischen Systeme konstitutiv ist, gilt: «We have to have some kind of anti-state politics», wie Jack Halberstam in der ersten Keynote betont.
In der Begrüssung heissen uns Prof. Dr. Janine Dahinden, die Präsidentin der SGGF, und Prof. Dr. Silvia Schroer, die Vize-Rektorin der Universität Bern herzlich willkommen. Dahinden zeigt das erneute Wachstum der zweijährlich stattfindenden Fachtagung der SGGF auf – im mehrfachen Sinn. Zum einen sei – wie im Titel ersichtlich – die Themenvielfalt und Interdisziplinarität breiter vertreten. Zum anderen fänden die Panels erstmals in vier parallel laufenden Tracks statt. Durch die Tagung soll ein besseres Verständnis von struktureller Gewalt in all ihren Dimensionen gewonnen werden. Ebenso geht es darum, Strategien und Taktiken des Protests – eines ‘anderen’ Fühlens, Erlebens und Tuns – zu erkunden sowie Visionen eines lebbaren Lebens in Solidarität aufzuzeigen. Dahinden nennt dabei Beispiele von neuen Protestformen wie etwa #metoo, der nationale Frauen*streik oder das #BlackLivesMatter Movement und hebt hervor, dass die Gender Studies ihres kritischen Kerns wegen schon immer eine gewisse Nähe zu sozialen Bewegungen und Widerständen aufwiesen. Die Geschlechterforschung ist eng mit sozialen Kämpfen – ebenfalls eine Form von Gewalt – verbunden.
Die erste Keynote findet am Abend statt, nach einem Tag voller mitreissender Panels. Doch auch wenn angenommen werden könnte, dass manch eine*r bereits müde sei: Prof. Dr. Jack Halberstam braucht bloss den Raum zu betreten und schon sind alle wieder wach und gebannt. Von der Columbia University angereist hält die Koryphäe der Queer Studies einen Vortrag mit dem Titel «Destitution, Dereliction, Disorder and Dispossession». Der Name ist Programm, oder «Let’s destitute the world», wie Halberstam die Autor*innengruppe «Unsichtbares Komitee» zitiert. Er verkörpert Radikalität, ruft dazu auf, über feministische und queere Beziehungen zur Gewalt zu sinnieren, diese (wieder) neu zu denken und in unser Handlungsrepertoire aufzunehmen. Als Inspiration dienen ihm etwa feministischen Filme der 70er Jahre, von denen er uns Trailer und Ausschnitte vorspielt. Diese «revolutionary girls», so Halberstam, zeigen, dass feministische Gewalt und Zerstörung denk- und gangbar waren. In einen Gegensatz zu dieser Herangehensweise stellt Halberstam den neoliberalen Feminismus, der sich ausschliesslich auf Agency fokussiere. In dieser Welt voll von Tun, Machen, Wissen und Bauen seien andere «modes of being and becoming» nicht denkbar. Deshalb plädiert er dafür, unsere Strategie umzukehren und auf «unbuilding, undoing, unmaking» zu setzen. Konkret bedeutet dies für ihn ein anarchistisches Handeln gegen den Staat und die Ökonomie des Eigentums, sowie die komplexen Verwebungen zwischen ihnen.
Enteignung ist Halberstam in diesem Projekt so wichtig, weil uns ständig gesagt werde, wie unentbehrlich Eigentum sei. Dagegen hält er: «Dispossession is one way of refusal». Damit verbunden ist seine Vorstellung von Freiheit, die er jenseits des Kapitalismus verortet. Wir sind, so Halberstam, nur ohne Besitz wirklich frei. Was sollen wir also tun? Halberstam hat eine klare Antwort darauf: Die Welt rückbauen und abbauen. Die Universität enteignen und das Gesetz abschaffen. Die Pharmaindustrie mittellos und uns selbst unregierbar machen, kurz: «Not law and order, but law and disorder». Zurücktreten und voranschreiten, mit leeren Händen, hin zu etwas, was wir auch Anarchie nennen können, wenn wir denn möchten. Diese Alternativen Futuritäten erhofft sicht Halberstam aus seinem destruktiven Projekt. Darüber müssen wir erstmal schlafen.
Der zweite Tag steht dem ersten in nichts nach. Gestärkt durch die wunderbare Verpflegung der Seeland-Bäuerinnen erwartet uns die zweite Keynote schon zur Mittagszeit. Dr. Noémi Michel reist von der Universität Genf an, um uns mit ihrem Vortrag «Unsustainable Inclusion. A Black Feminist Critique of Democracy» zu beehren. Darin kirtisiert sie neoliberale Diversity-Praxen die zu einer «crisis of inclusion» und einem «diversity hangover» geführt hätten. Für Michel ist klar: «being included in the sense of being present does not work». Michel konstruiert ihr Argument aus der Perspektive von Subjekten, die durch rassisierte und vergeschlechtlichte Differenzen markiert sind. Diese «marked women» bieten heuristischen Raum für die Sichtbarmachung der Prozesse, die Subjekte mit benachteiligten Stimmen ausblenden und zum Schweigen bringen, so die Forscherin. Michels Argument besteht aus vier Schritten.
Als Erstes zeigt sie auf, wie Demokratie als eine Politik von «embodied voices» funktioniert. Sie führt die fiktionale, aber deshalb nicht weniger wahre Geschichte von V an, welche als einzige Akademikerin of Color an einem politikwissenschaftlichen Departement arbeitet. Während ihr Gesicht zum Hauptmotiv der Departementsplakate wird, verwehrt ihr die Leitung einen eigenen Lehrstuhl. Vs Gesicht ist also zu Werbezwecken erwünscht. Ihre Stimme hingegen wird zum Schweigen gebracht.
In einem zweiten Schritt erklärt Michel, wie die körperliche Enteignung und Spektakularisierung von Schwarzen Menschen und People of Color im postkolonialen Zeitalter fortbestehen. Während diese früher ihrer Körper enteignet und als Spektakel in Zoos inszeniert wurden, können wir heute ähnliche Prozesse beobachten, so Michel. Das Beispiel von Vs Geschichte zeige, wie Schwarze Menschen und People of Color für Werbezwecke instrumentalisiert werden, um die Universität – in Anlehnung an Ahmed 2011 – als einen glücklichen und von Diversität geprägten Ort zu verkaufen. Der selbe Mechanismus führe dazu, dass V zur Schwarzen Frau auf dem Podium werde, anstatt als Wissenschaftlerin einen Platz darauf zu besetzen.
Drittens nimmt sich Michel der Frage an, wie Stimmen von Schwarzen Menschen und Menschen of Color heute eingedämmt und verzerrt werden. Während Sklavenhalter*innen beispielsweise Masken einsetzten, die das Sprechen und Sehen verunmöglichten, sieht sich V gezwungen, glücklich zu sein, um in den Wissenschaftsbetrieb aufgenommen zu werden. Ungemütliche Diskurse darf sie nicht produzieren, da sie sonst keine Lehr- und Forschungsaufträge erhält. Ihre «happy voice» wird zu einem Werkzeug, das ihre kritische Stimme verdrängt.
Zuletzt kommt Michel auf die Augen und Ohren dieser unzureichenden Inklusion zu sprechen. Die kolonisierenden Augen sind auf der Suche nach glücklich markierten Gesichtern und machen somit alle anderen unsichtbar. Analoges gilt für das Gehör, das unkomfortable Stimmen ausblendet. Es ist dieser audio-visuelle Zirkel, der es für markierte Subjekte so schwierig macht, gehört, miteinbezogen und wirklich inkludiert zu werden. Michel schliesst, dass wir eine Schwarz-feministische Kritik der Demokratie brauchen. Auf die Frage, was für Strategien und Werkzeuge helfen, gibt uns Michel mit auf den Weg, dass Sehen, Hören und Fühlen dekolonisiert werden müssen und dies die Aufgabe von weissen Menschen sei.
Auch ausserhalb der Keynotes waren die zwei Tage gefüllt mit Debatten, Diskussionen sowie kollektivem Denken und Fühlen. Strukturelle Gewalt wurde von den zahlreichen Beiträgen in ihren symbolischen, ökonomischen, affektiven und epistemischen Dimensionen beleuchtet und analysiert. Konkrete Strategien und Taktiken des Widerstands wurden vorgestellt, hinterfragt und weiterentwickelt. Die diesjährige Konferenz der SGGF leistete damit einen wertvollen Beitrag, um gemeinsam Visionen eines lebbaren Lebens in Solidarität zu erkunden, oder, wie Halberstam es nannte, «alternative Futuritäten» zu entwerfen.
Geschlecht,
LGBTIQ*,
Race,
Intersektionalität
Forschung