Warum sich die Angriffe auf «Gender» gegen die politische Freiheit richten

Debatten Analysen

Judith Butler April 2019

In den vergangenen Jahren gab es in verschiedenen Ländern, unter anderem in Europa und Lateinamerika, Proteste gegen die so genannte «Genderideologie». Bei den Wahlen in Frankreich, Kolumbien, Costa Rica und Brasilien haben sich die Diskussionen immer wieder um die Ansichten der Kandidierenden in Bezug auf Geschlecht gedreht. In den Vereinigten Staaten positionieren sich sowohl die katholische Kirche als auch Evangelikale politisch gegen «Gendertheorie» und «Genderideologie». Sie stellen sich gegen die Rechte von Transpersonen im Militär, gegen das Recht auf Abtreibung, gegen lesbische, schwule und trans Rechte, gegen die gleichgeschlechtliche Ehe, den Feminismus im Allgemeinen und gegen andere Bewegungen, die Gleichstellung und sexuelle Freiheit befürworten.

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Den Auftakt zu diesem Backlash bildete vermutlich ein Brief, den der «Päpstliche Rat für Familie» 2004 an die Bischöfe der katholischen Kirche adressierte. In dem Schreiben wurde davor gewarnt, dass Gender sogenannt «weibliche Werte» zerstören könne, die der katholischen Kirche wichtig seien. Zudem würde der Kampf zwischen den Geschlechtern verstärkt und die natürliche, hierarchische Unterscheidung zwischen männlich und weiblich, auf der Familienwerte und Sozialleben basieren, angezweifelt.2016 hat Papst Franziskus diese Rhetorik verschärft: «Wir erleben einen Moment der Vernichtung des Menschen als Ebenbild Gottes». Er führte weiter aus: «Heute wird den Kindern – den Kindern! – in der Schule beigebracht, dass jeder sein Geschlecht selber wählen kann». Mit diesen Aussagen bezog er Stellung gegen die «Genderideologie» und versuchte schlussendlich klar zu machen, dass diese für die Theologie eine Gefahr darstellt: «Gott hat Mann und Frau geschaffen, Gott hat die Welt mit einer klaren Vorstellung erschaffen… und wir erlauben uns, das Gegenteil zu machen.»

Aus Sicht des Papstes ist die Freiheit, ein Geschlecht zu wählen oder zu einem zu werden und ein vergeschlechtlichtes Leben (engl. Original. «gendered life») als Ausdruck persönlicher und sozialer Freiheit zu verstehen, eine Verfälschung der Realität. Seiner Überzeugung nach sind wir weder frei, unser Geschlecht noch eine sexuelle Orientierung zu wählen, die von der göttlich gegebenen Bestimmung abweichen. Religiöse Anti-Genderist*innen sehen das Recht der Menschen auf sexuelle Selbstbestimmung, Wahlfreiheit in Bezug auf sexuelle Orientierung und Geschlecht, als Versuch, die Macht Gottes an sich zu reissen. Dies widerspreche den göttlich aufersetzten Limiten der menschlichen Handlungsfähigkeit. In den Augen des Papstes ist Geschlechtergleichheit und sexuelle Freiheit nicht nur «exzessiv», sondern auch «destruktiv», ja sogar «diabolisch». 

Solche Kritiken sehen die Gleichstellung der Geschlechter als «teuflische Ideologie». Denn sie gehen davon aus, dass einer göttlich gegebenen, natürlichen Geschlechterdifferenz nun Auffassungen von Geschlechtervielfalt als historisch veränderliche, soziale Konstruktion aufgezwungen werden. Es mag zwar stimmen, dass Gendertheoretiker*innen die Praxis der Geschlechtszuschreibung bei der Geburt ablehnen. Die Unterstellung, die Gender Studies würden mit ihrem Sozialkonstruktivismus willentlich gottgegebene Realität zerstören, ist aber diffamierend und missdeutet das Feld der Gender Studies auf schwerwiegende Weise. Bei einer sorgfältigen Auseinandersetzung mit Gendertheorie wird schnell klar, dass diese weder destruktiv noch indoktrinierend ist. Vielmehr engagieren sich ihre Vertreter*innen für eine gerechtere, lebenswertere Welt und politische Freiheit. 

«Man wird nicht als Frau geboren, man wird es.» Dieses berühmte Zitat aus «Das andere Geschlecht» (1949) der existenzialistischen Philosophin Simone de Beauvoir öffnete den Raum für die Prämisse, dass «sex» nicht das Gleiche ist wie «gender». Diese Auffassung lässt sich wie folgt herunterbrechen: «sex» steht für die biologischen Gegebenheiten, «gender» für deren kulturelle Interpretationen. Selbst wenn eine Person – im biologischen Sinne – als Frau geboren wurde, muss sie im Laufe ihres Lebens durch eine Serie sozialer Normen navigieren, um herauszufinden, wie sie als Frau – oder ein anderes Geschlecht – in der jeweiligen Gesellschaft leben muss. 

«Sex» ist, und das ist entscheidend bei Beauvoir, von Beginn an Teil einer historischen Situation. «Sex» wird dabei nicht die Existenz aberkannt, jedoch wird dessen Bedeutung hinterfragt: die Zuordnung zum weiblichen «biologischen» Geschlecht bei der Geburt bestimmt nicht, was für ein Leben eine Frau führen wird oder was «Frausein» bedeutet. In der Realität werden viele trans Menschen bei der Geburt einem Geschlecht zugeordnet und beanspruchen im Verlauf des Lebens ein anderes. In der Logik Beauvoirs existentialistischer Darstellung sozialer Konstruktion kann also ein Mensch als Frau geboren werden und zum Mann werden. 

Eine stärker auf Institutionen fokussierte Variante des sozialen Konstruktivismus entstand in den Gender Studies in den 1990er Jahren. Sie befasst sich mit der Tatsache, dass auch biologisches Geschlecht  zugeordnet wird. Bei der Bestimmung des biologischen Geschlechts eines Kindes spielen demnach medizinische, familiäre und rechtliche Autoritäten eine bedeutende Rolle. Dadurch wird Geschlecht nicht mehr länger als eine biologische Gegebenheit betrachtet, obschon es teilweise biologisch determiniert wird. Doch welcher Referenzrahmen ist relevant für diese Bestimmung? Nehmen wir das Beispiel intergeschlechtlicher Kinder, die mit verschiedenen Geschlechtsmerkmalen geboren werden. In manchen Fällen berufen sich Mediziner*innen auf Hormone, um das Geschlecht eindeutig zu bestimmen; andere wiederum machen die Chromosomen als entscheidenden Faktor geltend. Wie diese Bestimmung des (biologischen) Geschlechts vorgenommen wird, hat weitreichende Konsequenzen: Viele intergeschlechtliche Menschen äussern sich zunehmend kritisch über medizinischen Autoritäten, weil die Kategorisierung der Mediziner*innen oft nicht dem Selbstverständnis der Betroffenen entspricht und sie einer brutalen Form der «Korrektur» unterworfen wurden. 

Zusammengenommen zeigen die existenzialistischen und institutionellen Interpretationen von sozialer Konstruktion, dass «gender» und «sex» durch eine Reihe komplexer und interagierender Prozesse bestimmt werden: historische, soziale und biologische. Meiner Meinung nach werden wir in diese institutionellen Formen von Macht und Wissen hineingeboren und sie gehen unseren existenziellen Entscheidungen voraus, formen und beeinflussen diese. 

Wir werden einem Geschlecht zugewiesen und danach so behandelt, wie es den Erwartungen an das Leben als das eine oder andere Geschlecht entspricht. Und wir werden innerhalb von Institutionen geformt, die wiederum die Geschlechternormen unseres Alltags reproduzieren. Folglich werden wir immer schon konstruiert, und zwar auf eine Art und Weise, die wir nicht selbst wählen können. Trotzdem versuchen wir ein Leben zu führen, das in das stets im Wandel begriffene soziale Gefüge unserer Welt passt. Dabei ringen wir auf der Suche nach uns selbst mit existierenden und entstehenden Konventionen. Die «Konstruktion» von «sex» und «gender» ist folglich aber weder vollständig determiniert noch komplett frei gewählt, sondern viel mehr gefangen in der fortlaufenden Spannung zwischen Determinismus und Freiheit.

Sind die Gender Studies also ein destruktives, diabolisches oder indoktrinierendes Forschungsfeld? Gendertheoretiker*innen, die sich für Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern und sexuelle Freiheit einsetzen, bekennen sich nicht zu einer völlig freiwilligen Sicht auf soziale Konstruktion, die sich nach einem göttlichen Plan richtet. Sie versuchen auch nicht, ihre Ansichten anderen erzieherisch aufzuzwingen. Wenn überhaupt, dann eröffnet das Verständnis von Gender eine Form der politischen Freiheit, in der es allen Menschen möglich ist, mit ihrem gegebenen oder gewählten Geschlecht ohne Diskriminierungen und ohne Angst zu leben. Das Fehlen dieser politischen Freiheit hat fatale Folgen. Ginge es nach dem Papst und vielen Evangelikalen, würden jene, die eine Abtreibung vornehmen möchten, dieser Freiheit beraubt. Schwulen und lesbischen Paaren würde die Realisierung des Wunschs zu heiraten, verweigert. Und jene die ein anderes Geschlecht annehmen möchten, als dasjenige, das ihnen bei der Geburt zugeteilt wurde, würden auch daran gehindert. 

Darüber hinaus würden Schulen, die Geschlechtervielfalt unterrichten möchten, eingeschränkt, und jungen Menschen würde das Wissen über das tatsächliche Spektrum an vergeschlechtlichten Leben verwehrt. Diese Art der Pädagogik der Geschlechtervielfalt wird von Kritiker*innen als dogmatische Massnahme verstanden, die den Schüler*innen vorschreibt, wie sie denken oder leben sollen. Dabei missverstehen diese Kritiken willentlich die Bestrebungen, jungen Menschen im Aufklärungsunterricht das gesamte Spektrum an sexueller Freiheit zu erschliessen. Jedoch ist das Gegenteil davon wahr. Mit dem Unterrichten von Gleichstellung und sexueller Diversität werden keine Anleitungen zur Masturbation gegeben und keine Schüler*innen zur Homosexualität erzogen, sondern das repressive Dogma der Zweigeschlechtlichkeit und der Heterosexualität aufgebrochen, das so vielen geschlechtlichen und sexuellen Lebensentwürfen Anerkennung und Zukunftsaussichten genommen hat. 

Schlussendlich versucht der Kampf für Gleichstellung und sexuelle Freiheit, Leiden zu verringern und anerkennt dabei die diversen, verkörperlichten und kulturellen Lebensrealitäten. Gender zu unterrichten ist keine Indoktrination. Es gibt keine Vorgaben, wie eine Person ihr Leben zu führen hat, aber es eröffnet jungen Menschen die Möglichkeit, ihren eigenen Weg fernab von engen und brutalen sozialen Normen zu gehen. Das Bejahen von Geschlechtervielfalt ist somit auch nicht destruktiv, sondern anerkennt die menschliche Komplexität und schafft Raum für Konfigurationen innerhalb dieser Komplexität.

Geschlechtervielfalt und sexuelle Komplexitäten werden nicht einfach aus unserer Realität verschwinden. Vielmehr erfordern sie Anerkennung für alle, die ihre Sexualität und ihr Geschlecht ausserhalb der zweigeschlechtlichen, heterosexuellen Norm ohne Stigmatisierungen und drohende Gewalt leben wollen. Sie alle verdienen es, in einer Welt ohne Angst zu leben, zu lieben, geliebt zu werden, zu existieren und eine Welt mitzugestalten, die gerechter und gewaltfreier ist.

Dieser Artikel erschien im englischen Original unter dem Titel «Judith Butler: the backlash against ‹gender ideology› must stop» im New Statesman.
Übersetzt auf Deutsch und Französisch mit freundlicher Genehmigung der Autorin.
Übersetzung: Vanessa Näf (Gender Campus Redaktion)

Publikationsdatum:

05. April 2019

Autor_in:

Judith Butler