Tino Plümecke März 2019
Heute ist Fasnacht im «Chindsgi». Ezra, das Kind, für das ich sorge, ist fünf und im ersten Kindergartenjahr. Ezra wollte eine Gepardenverkleidung, oder am besten eine Mischung aus Leopard, Gepard, Falke und Adler. Und so was Ähnliches ist es nun in aller Frühe mit Schminken und Verkleiden auch geworden. Angekommen im Kindergarten sehen wir einen schicken Piraten mit Schnurrbart und Augenklappe, einen Cowboy, eine Scream-Verkleidung, eine Zauberin, einen Schmetterling und dann: alle anderen, die ich sehe, sind Prinzessinnen. 21 Kinder, die Hälfte Mädchen, und fast alle der Mädchen verkleiden sich an dem Tag als Prinzessin, als Eisprinzessin, als Prinzessin in Rosa, als Prinzessin mit einem riesigen weissen Reifenrock, der beim Laufen in beiden Händen getragen werden muss, oder als Prinzessin Lillifee. Den Jungen scheint hingegen so etwas nicht erlaubt, dafür muss es aber möglichst etwas sein, dass mit Aktivität oder Macht zu tun hat, bloss kein Glitzer oder was Weiches, kein Tüll oder Plüsch.
Dies also an dem Tag, an dem all die Phantasiegestalten, die Märchenfiguren, alle kleinen und grossen Persönchen aus den Lieblingsbüchern, -hörspielen und -filmen ausprobiert werden könnten, an dem sie mittels Verkleidung, Schminke und ein paar Accessoires ausprobiert, gespielt und eben auch in der Realität dieses Ausnahmetages verkörpert werden könnten. Doch diese Figuren fehlen weitgehend. Denn wo sind Pippi Langstrumpf, Lars der Bär, Elmo, die kleine Hexe, Winnie the Pooh, der kleine Maulwurf, die Maus Frederick, Ronja Räubertochter, Grüffelo, oder auch die Minions, Findus, Krümelmonster, Heidi, das kleine Gespenst, die Zauberinnen, und was ist mit den ganzen Tieren, die sonst eine so wichtige Rolle im Kindererleben spielen? Warum solche Uniformität? Was ist mit den Phantasien der Kinder? Wo sind die möglichen Persiflierungen, für die Karneval doch auch steht? Mit den Grosseltern eines Chindsgifreundes von Ezra tausche ich mich über die Erfahrungen aus ihrer Elternzeit aus, aber auch sie sind eher ratlos. Als Sozialwissenschaftler sollte ich auf die Fragen Antworten parat haben, und klar könnte ich auch schnell allgemeine Kulturtheorien, Anpassungsdruck in gesellschaftlichen Institutionen oder die Macht der Geschlechternormen herbeten, doch die ins Auge stechende Monotonie lässt mich erstmal sprachlos und auch empört dastehen.
Um meine Empörung noch etwas verständlicher zu machen: Ich bin in der DDR aufgewachsen, war selber in dem Alter mal – als Junge – als Prinzessin verkleidet und glaube mich nicht zu erinnern, dass das als ungewöhnlich oder irgendwie unmöglich verstanden wurde. Und auf meinen Kinderbildern aus dieser Zeit ist eine wilde Mischung aus allen erdenklichen Figuren zu sehen. Nun ist das DDR-Erziehungssystem zu Recht ob seiner Rigidität und Indoktrination angeprangert worden. Bekannt ist vielleicht die These des Hannoveraner Kriminologen Christian Pfeiffer, der Ende der 1990er Jahre Mutmassungen über den Zusammenhang zwischen der autoritären Erziehung in den Kindergärten der DDR und der in Ostdeutschland bestehenden Dominanz rechtsradikaler Einstellungen unter Jugendlichen anstellte. Seine These war – ausgeführt am Beispiel des gemeinsamen Aufs-Töpfchen-Gehens in der Kinderkrippe –, dass die Kinder massiv davon geprägt wurden, alles in der Gruppe zu machen und von oben verordnet zu bekommen.
Ich bin kein Anhänger dieser Pfeiffer‘schen These, und doch kommt sie mir unwillkürlich in den Kopf, als ich die soziale Vereinheitlichung an diesem Tag zu Gesicht bekomme. Offenbar ist es diese Sichtbarkeit, die bei mir eine Schockwirkung erzeugt, denn ich weiss ja eigentlich schon, wie Geschlechtererwartungen auf Kinder einwirken. Ich wurde schon von Freund*innen vorgewarnt, bevor ich selber Elter wurde, und ich habe seitdem ein reichhaltiges Spektrum von offensiven Anrufungen an die Geschlechtlichkeit meines Kindes und geschlechtsspezifischen Elternschaftserwartungen erlebt. Gleichzeitig erlebe ich aber auch, dass es in den letzten 30 Jahren zu einer massiven Liberalisierung von Geschlechtsrollenerwartungen gekommen ist. Der Feminismus hat sich als wirkmächtigste soziale Bewegung seit den 1970er Jahren bis in die heutige Zeit herausgestellt. Die Auswirkungen sind unübersehbar. Klar nicht auf allen Ebenen, aber doch in vielen Bereichen – von der Bundeswehroffizierin über die Firmenchefin bis zur Bundeskanzlerin – sind Frauen in verantwortlichen Positionen zur Normalität geworden. Selbstentwürfe heutiger Kinder und Jugendlicher sind in Bezug auf Zukunftswünsche viel diverser, als es die Generation ihrer Eltern noch für möglich erachtet hätte. In vielen gesellschaftlich relevanten Bereichen haben sich Geschlechterdivergenzen verringert oder sind gar weitgehend aufgelöst.
Also was ist los mit dir, Gesellschaft?
Warum gehen Eltern, Bezugspersonen, Lehrpersonen und Peers so mit jungen Individuen um, dass diese sich schon mit fünf und sechs geschlechtlich so klar einnorden? Und warum sind solche rigiden sozialen Zuweisungen so wenig ein allgemein anerkanntes Problem? Was ist los mit uns, die in Gesellschaft diese auch performen? Wo ist denn die Fluidität der Geschlechtergrenzen, wo die Non-Binarität, die Queerness und das Post-Gender, die in den Clubs, auf den Gay Prides, in der Liberalisierung des Rechts mit drittem Geschlechtseintrag oder der Homoehe doch schon längst Realität sind? Und was ist passiert, dass zeitgleich mit der Vervielfältigung von Geschlechtlichkeiten sich eine Fixierung Raum bricht, die schon für Kinder die Möglichkeiten eines selbstbestimmten Lebens einschränkt?
Wie dogmatisch heutige Geschlechterbilder in Bezug auf Kleidervorschriften sind, lässt sich sehr gut bei einem Gang in ein x-beliebiges Warenhaus sehen: Die Kinderabteilungen sind dermassen strikt nach Geschlecht aufgeteilt, dass sich mindestens 97 Prozent aller Kleidungsstücke, vom Schuh bis zur Mütze und von der Jacke bis zum Unterhemd, eindeutig zuordnen lassen. Das ist relativ neu. Wie gehen wir damit um? Während die Erklärung beim DDR-Erziehungssystem scheinbar leicht fiel, ist ein Monieren der jetzigen Verhältnisse irgendwie schwierig. Im allgemeinen Diskurs herrscht ein Gleichklang aus individualistischen wie naturalisierenden Begründungen vor. «Die Farbe gefällt meinem Kind halt am besten.» oder «Da sieht man doch, wie wichtig biologische Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen sind.» Beide Begründungen sind wissenschaftlich leicht zu widerlegen. Aber was ist dann der Grund, dass sich Kinder schon so früh vereindeutigen müssen? Kinder sind doch zuallererst alles andere als geschlechtliche Wesen (wie übrigens Erwachsene auch). Aber auf der Ebene der Sichtbarkeit wird eine strikte Binarität performt, die es in wohl keinem anderen Eigenschaftsbereich von Kindern sonst je gibt. Doch dieser Bereich gesellschaftlichen Zugriffs auf Kinder wird bisher kaum als wirklich problematisch erachtet - während die Ernährung, die Impfung, die musikalische Früherziehung oder der Fremdsprachen-Unterricht immer wieder heiss diskutierte Themen sind, sind es geschlechtliche Zuweisungen kaum.
Es wurmt mich die Frage, woran das wohl liegt, und ich lande zunächst bei Pierre Bourdieus Begriff der «symbolischen Gewalt», mit dem der französische Soziologe zu umfassen versucht, wie kollektive Erwartungen, sozial begründete und verinnerlichte Glaubenssätze Unterwerfungen erpressen, die als solche gar nicht wahrgenommen werden. Und bei Regine Gildemeister, der Tübinger Geschlechterforscherin, die mit ihren Untersuchungen zum geschlechtlichen Gleichheitstabu herausarbeitet, wie geschlechtliche Differenzierungen quasi auf einem Verschiebebahnhof immer wieder mit neuen Rechtfertigungsnarrativen versehen werden und heute in Retraditionalisierungen dazu führen, dass binäre Anforderungen zunehmen, während doch Gleichheitsansprüche gewachsen sind. Beide, Bourdieu wie Gildemeister, bleiben dabei weitgehend auf einer beschreibenden Ebene, jedoch wird bei beiden auch deutlich, dass gerade aus der Nichtthematisierung die machtvolle Wirklichkeit von Klassifikationen und Konstruktionen hervorgeht. Aber warum wirkt Gesellschaft hier so?
Wer weiss Rat?
Ich frage die, die es wissen müssen, die sich in ihrer Forschungsarbeit mit diesen Fragen beschäftigen: Als erstes eine Person in meinem Büro, die in den Erziehungswissenschaften zu einem Genderthema promoviert. Be Settele führt aus: «Kinder ordnen sich und andere oft überraschend deutlich binär zu, auch wenn Lebensrealitäten und gesellschaftliche Vorgaben durchaus diverser sind.» Der Grund sei aber keinesfalls eine «Natur der Geschlechterdifferenz», sondern weil sie bei den Peers dabei sein wollen, sich einzuordnen versuchen und dabei schnell in einer engen Normativität landen. Erst später im Leben (Be Settele argumentiert hier vor allem psychoanalytisch) würden die Selbstentwürfe und Identifikationen komplexer. Dem lässt sich zustimmen, aber die Ausführungen zu der Frage, warum es in Zeiten der Aufweichung von Geschlechterpolarität zu strengeren Kleidungsnormen kommt, überzeugen mich noch nicht.
Als nächstes frage ich Prof. Catrin Heite, Professorin für Erziehungswissenschaft an der Universität Zürich. Sie stellt die These auf, dass es sich dabei um eine Gegenbewegung zu den Emanzipationsgewinnen der heutigen Müttergeneration handeln könne und weist damit vor allem den Eltern eine aktive Rolle in der Entscheidung für Kleidungsnormen zu. Und sie gibt mir mit auf den Weg, dass auf die Warum-Frage in diesem Fall keine einfachen Antworten und keine klaren Kausalitäten zu erwarten sein werden.
Auf der Suche nach weiterer Erklärungskraft frage ich Prof. Dr. Anelis Kaiser, die bisher an der Universität Bern, und aktuell an der Uni Freiburg/Brsg. zu multigeschlechtlicher Diversität im Gehirn forscht. Sie antwortet beachtenswerterweise nicht mit Verweis auf hirnphysiologische Aspekte, sondern mit einer marktbezogenen Argumentation: «Geschlechternormen waren in Bezug auf Kleidung auch vor Jahrzehnten schon vorhanden, aber nicht dermassen kommerzialisiert.» Heute gebe es Werbepsycholog*innen und eine Reklamemaschinerie, die den Kindern gar keine Chance mehr ermöglichten, sich nicht nach den vorgegebenen Geschlechterklischees zu richten. Und auch sie merkt an, dass sie eine Gegenbewegung wahrnehme, in der auf die teilweise Auflösung von Geschlechterstereotypen mit verstärkter Binarität reagiert werde.
Als nächste rufe ich Kerstin Bronner an. Sie ist Professorin für Soziale Arbeit der Fachhochschule St. Gallen und hat über Gender-Darstellungen in der schwäbisch-alemannischen Fastnacht geforscht. Sie fragt zunächst zurück, ob meine Beobachtung denn verallgemeinerbar ist. Nun, dass weiss ich nicht, entgegne ich, aber ich vermute, keine absolute Ausnahme zu Gesicht bekommen zu haben. Daraufhin verweist sie auf sozialstaatliche Besonderheiten: «In der Schweiz sind Geschlechternormen noch sehr bipolar aufgestellt, weil die Sorgearbeit nach wie vor weit überwiegend bei den Müttern liegt und Väter sich kaum mehr einbringen können, zumindest nicht ohne zumeist essentielle Erwerbseinbussen.» Zudem vermutet sie einen Rückfall in tradierte Geschlechternormen der Elterngeneration aufgrund allgemeiner Umbrucherfahrungen in einer Vielzahl gesellschaftlicher Bereiche.
Nach diesem Statement befrage ich den LGBT-Aktivisten Florian Vock. Er arbeitet als Projektleiter bei der Aids-Hilfe Schweiz und ist Kantonsrat der SP im Aargau. Er verweist darauf, die «Schuld» bei den heutigen Eltern bzw. deren Generation zu suchen. Denn «diese Generation ist gegenüber der Grosselterngeneration auffallend unpolitisch.» Es sei keine bewusste Retraditionalisierung, so vermutet er, aber diejenigen, die in den 1990er Jahren in der Adoleszenz waren, seien in einem Umfeld allgemeiner «Selbstzufriedenheit» aufgewachsen, in deren Folge sie sich kaum mit gesellschaftlichen Fragen und eben auch nicht mit Geschlechternormen beschäftigten. «Ihnen wurde die ganze Individualität versprochen.» Gesellschaftliche Normen gebe es für sie entsprechend kaum. «Aber wer sich nicht mit Normativität auseinandersetzt, der macht am Schluss mit. Das ist ja gerade der Witz daran.»
Zu guter Letzt kontaktiere ich Prof. Dr. Sabine Hark, die als Gender- und Queer-Theoretikerin an der TU Berlin lehrt und forscht. Sie verweist auf das von Gayle Rubin schon 1975 aufgestellte Theorem des «sameness taboo», mit dem beschreibbar wird, wie historisch auf Grundlage der geschlechtlichen Arbeitsteilung zwei sich ausschliessende Kategorien geschaffen wurden, die weiterhin gesellschaftsstrukturierend wirken. Je mehr nun die Geschlechterrollen in einigen Bereichen in Frage gestellt werden, umso stärker sind Differenzen an anderer Stelle zu betonen. «Es werden einfach neue Terrains gesucht, auf denen Geschlechterbinarität dramatisiert werden kann, und Kinder sind eines der aktuell intensiv bewirtschafteten Felder der Erzeugung polarer Geschlechtervorstellungen.» Deutlich sichtbar sei dies etwa an den heutigen Marketingstrategien von Spielzeugherstellern, wobei Sabine Hark zugleich darauf hinweist, dass symbolische Zuweisungen zur Genderperformance über rein marktlogische Rationalitäten hinaus weisen.
Fazit
Alle Antworten sind überzeugend und ich sehe, dass sie sich trotz ihrer Unterschiedlichkeit in mehreren Bereichen überschneiden. Es ist wohl, wie die Breite der Antworten andeutet, eine Vielzahl an Gründen, aus denen die heutige Realität von Kindheit eben nicht als Freiraum erlebbar wird. Interessanterweise macht keine der Antworten das Bildungssystem verantwortlich. Christian Pfeiffer fände mit einer adaptierten These, dass die Normierungen in den Kindergärten in der nahen Zukunft zu autoritären Persönlichkeiten führen, die Gewalt verherrlichen und über geringes Selbstwertgefühl verfügen, sicher kaum Anhänger*innen. Aber die Gegenthese, nämlich, dass die geschlechtlichen Vereindeutigungszuweisungen an Kinder – von der Kleidung, über Spielangebote bis zu den Verhaltens- und Identifizierungsnormen – keine Folgen zeitigen, ist ebenfalls zu verwerfen. Kleidungsvorschriften sind dabei eher als Sinnbild zu interpretieren, an dem offensichtlich wird, dass die Möglichkeitsräume für Kinder mindestens in Bezug auf Geschlecht sehr eng sind, jedenfalls enger, als die meisten wohl glauben möchten. Demgegenüber ist im oftmals überbordenden Diskurs um gute Elternschaft, um Frühförderung und Kompetenzerwerb kaum eine Kritik an der hier stattfindenden Eingrenzung von Kindern zu vernehmen. Das müsste eigentlich erschreckend sein, weil Kinder – wie doch jede Person – vor allem eines verkörpern sollten, nämlich Optionen und Möglichkeiten, oder?
Publikationsdatum:
25. März 2019
Autor_in:
Tino Plümecke