Eine Lehrveranstaltung in Kooperation mit der Gosteli-Stiftung
Historische Überlieferungen sind stark von gesellschaftspolitischen Umständen geprägt; was als erinnerungswürdig gilt, ist dabei selbst Gegenstand der Geschichte. In der Geschichtsschreibung gibt es deshalb eine Vielzahl von Stimmen, die ausgeschlossen oder zum Schweigen gebracht wurden – und immer noch werden. Gleichzeitig existiert seit Jahrzehnten nicht nur in der Historiografie, sondern beispielsweise auch in den Kulturwissenschaften ein grosses Interesse an den «Leeren und Lücken» der Geschichtsschreibung und an Fragen des Schweigens und der Abwesenheit in Archiven.
Diese transdisziplinäre Lehrveranstaltung führt uns in die vielfältigen Quellenbestände des «Gosteli-Archivs» ein. Wir fragen dabei nicht nur nach der gesellschaftspolitischen Rolle von Archiven, sondern auch nach Strategien, um mit archivalischen Leerstellen umzugehen oder um Quellen «gegen den Strich zu lesen».
Anhand des Archivs der Frauenbewegung in der Schweiz beschäftigen wir uns demnach exemplarisch mit der Frage, wie ein nicht staatliches Archiv historisch entstehen und in der Gegenwart überleben kann, wie es aufgebaut ist, welche Aufgaben es übernimmt und welche Herausforderungen Archivierungs- Katalogisierungs- und Digitalisierungsprozesse, aber auch neue Aktions- und Bewegungsformen mit sich bringen. Wir richten dabei den Blick insbesondere auf Fragen von Macht und Ungleichheit. Denn die Aufbewahrung verdrängter Geschichten haben wir oft «Betroffenen» zu verdanken, die mit viel Engagement und oftmals beschränkten finanziellen Mitteln dafür sorgen, dass später eine Aufarbeitung bestimmter Thematiken möglich gemacht wird.
In der Schweiz wurde Frauen während Jahrhunderten die direkte Mitwirkung an politischen Entscheidungsprozessen verweigert. Staatliche Archive sammelten wiederum in erster Linie Akten, die behördliches Handeln dokumentieren. All dies bewirkte, dass die Geschichte der Frauenbewegung lange keinen Eingang ins «Archiv» und damit ins offizielle Gedächtnis der Schweiz fand. Frauen haben aber lange vor der Einführung des Frauenstimmrechts politische und gesellschaftliche Prozesse mitgestaltet. Das in den 1980er Jahren von Marthe Gosteli gegründete Archiv sammelt und erschliesst aus diesem Grund Archivalien von Frauenorganisationen, Frauenverbänden und einzelnen Frauen, die in Politik, Wirtschaft, Bildung, Kultur, Gesellschaft und Familie eine wichtige Rolle gespielt haben.
Doch auch in diesem Archiv gibt es «Leerstellen» und schwer auffindbare Geschichten. Wir fragen danach, ob und wie mit den Beständen im Gosteli-Archiv die Geschichte von «Migrantinnen», von Frauen im kolonialen Kontext oder von frauenliebenden Frauen geschrieben werden kann und welche theoretischen und methodischen Überlegungen dafür wichtig sind. Neben der Arbeit im Archiv widmen wir uns aktuellen historischen und kulturwissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit der Frage, was ein Archiv ist, wie fehlende Archive hergestellt werden können, z.B. durch Oral History, wie mit gewaltvollen Formen von Quellen, z.B. im Kontext von Polizei-, Psychiatrie- oder Kolonialarchiven gearbeitet werden kann, und welche Möglichkeiten es gibt, mit den Lücken, Auslassungen und dem Verschwiegenen zu arbeiten, mit denen uns das Archiv immer auch konfrontiert.
Semesters:
Level:
MA
Themes:
Disciplines:
ETCS:
5
Subjects:
Gender Studies, History
University Type:
Universities