#2: «Nie wieder freiwillig»

In/Equalities

Mia Eichmüller, Antonia Stephan August 2022

Neue Blogserie: Systemrelevante Arbeit?

Im Rahmen des Praxisseminars «Gender Perspectives on Paid and Unpaid Work in the Global South and Global North” im Frühlingssemester 2022 wurden von den Studierenden Blogbeiträge als Leistungsnachweis verfasst. Die Texte werfen einen Blick auf bezahlte und unbezahlte Carearbeit und bieten einen Einblick in verschiedene Lebensrealitäten. Die Intersektionalität der in den Berufsfeldern der Hebammen, Pflegefachpersonen und Sexarbeitenden tätigen Personen wird in den Interviews deutlich sichtbar gemacht, ebenso wie das Spannungsfeld zwischen bezahlter und unbezahlter Arbeit und politischem Engagement.

Im ersten Teil des Seminars nahmen die Studierenden an einem Massive Open Online Course der Universität Kathmandu teil, der sich mit der Arbeitswelt im globalen Süden befasst, wobei der Schwerpunkt auf den Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf bezahlte und unbezahlte Arbeit liegt. Die Blogbeiträge entstanden im zweiten Teil und reflektieren in den Interviews den im Seminar vermittelten theoretischen Rahmen und die Realitäten von Carearbeitenden im Globalen Norden.

Junge Frau in Pflegeuniform. Quellenangabe: www.unsplash.com

Der Pflegeberuf steht seit Jahren unter Druck. Sparprogramme, Personalmangel und mangelnde Anerkennung prägen den beruflichen Alltag. Aber auch geschlechterspezifische Stereotypisierung und Erfahrungen sind ein Dauerthema, denn die Pflegearbeit wird mehrheitlich von Frauen verrichtet. Wie erleben diese Frauen ihren Beruf und welche Rolle spielt ihr Geschlecht dabei? Eine junge Frau erzählt uns von ihren Erfahrungen.

Aline (Name anonymisiert) ist 25 Jahre alt und hat diesen Sommer ihren Master an der Universität Bern in Psychologie abgeschlossen. Bei der Finanzierung ihres Studiums durch einen Nebenjob sammelte sie erste Erfahrungen im Pflegebereich. Ein Jahr lang arbeitete sie in einem Altersheim auf der Demenz-Abteilung, bis es Aline zu viel wurde, und sie daraufhin die Kündigung einreichte. In diesem Interview wollen wir erfahren, wie es zur Wahl des Nebenjobs gekommen ist, welche Rolle Gender dabei spielte, und was sie dazu bewegte diese Arbeit zu beenden.

Der Entscheid zum Pflegeberuf

Für Aline war der Entscheid für diese berufliche Tätigkeit bestimmt durch finanzielle Gründe sowie, im Hinblick auf ihr Studium, Verständnis für Arbeitende im Pflegebereich zu entwickeln. Dieser ist geprägt durch anspruchsvolle Situationen, denn die Patient:innen benötigen sehr nahe Betreuung, können vieles nicht mehr selbst handhaben oder können die Gründe für bestimmte Behandlungen nicht nachvollziehen. Zu Alines Tätigkeiten gehörten beispielweise das Austeilen von Medikamenten, die Grundpflege wie Zähneputzen oder das Wechseln von Einlagen, aber auch Hilfestellungen beim Essen. Alines Stellung, und somit auch ihr Lohn, sind definiert als Hilfsassistenz, obwohl alle im Team die gleichen Aufgaben erledigen. Es wird keine Unterscheidung getroffen zwischen Nebenjob oder gut ausgebildeten Pfleger:innen. Jedes Paar Hände wird dringend benötigt und eine Unterscheidung nach Ausbildungsgrad liegt im bereits sehr hektischen und anstrengenden Job nicht drin. In Notfällen konnte sich Aline jedoch immer entsprechende Hilfe aus dem Fach-Team holen. Obwohl sie die gleichen Tätigkeiten mit geringerem Lohn absolvierte, war sie froh, dass sie in solch entscheidenden Momenten die Verantwortung abgeben konnte.

Zeitdruck, Tod und Einsamkeit im Berufsalltag

Die gemeinsame Arbeit im Team ist sehr wichtig, erzählt uns Aline: «Ich konnte viele gute Erfahrungen sammeln, wie eine super gegenseitige Unterstützung im Team und verspürte auch viel Dankbarkeit von den Patient:innen», erzählt Aline. Jedoch auch negative Erfahrungen prägten den beruflichen Alltag. Ein ständiger Zeitdruck alles zu erledigen, bevor die neue Nachtschicht eintrifft, sei eine starke Belastung gewesen: «Die Nachtschicht hat bereits einen sehr schwierigen Job und da möchte ich alles für sie vorbereiten und nicht, dass auch noch meine eigentliche Arbeit von ihnen gemacht werden muss». Die Verantwortung gegenüber dem Team und anderen sei hoch und wenn Aufgaben nicht erfüllt werden können wegen Zeitmangels oder schwierigen Momenten mit den Patient:innen, dann gehe man mit einem unguten Gefühl wieder nach Hause, so Alines Erfahrungen. Insgesamt verlangt der Job von den Arbeitenden viel psychische wie physische Kraft. Teilweise braucht es mehrere Pflegende um eine Person zu mobilisieren. Und besonders mental herausfordernd ist, gegen den Willen der Patient:innen zu arbeiten. Aline erzählt uns von einer für sie einschneidenden Erfahrung, bei der eine Patientin sie durchwegs anschrie, man solle sie loslassen und nicht verstand, weshalb die dreckigen Kleider gewechselt werden sollten. «Das war eine schlimme Erfahrung».

Auch weitere schwierige Themen wie Tod und Einsamkeit schweben wie eine Wolke ständig über den Köpfen aller. Insbesondere auf der Demenz-Abteilung sind viele Mitbewohner:innen oft allein. «Es findet keine grosse Interaktion zwischen den Bewohner:innen statt», erzählt Aline, viele sind in sich gekehrt und bei schlimmen Demenzerkrankungen nicht mehr kommunikationsfähig. Nicht nur die Zeit im Altersheim, sondern auch der Tod sei ein einsamer, denn häufig sind in den letzten Stunden nur die Pflegenden anwesend. Das Altersheim und seine Mitglieder befinden sich am Rande der Gesellschaft, so wie es Foucault in seinem Werk «Andere Räume» mit dem Heterotopie-Konzept beschreibt.  

Genderdimensionen im Pflegebereich

Die Care-Arbeit von pflegebedürftigen Menschen hat die häusliche Pflege abgelöst und diese Form von Arbeit institutionalisier Dabei wurden «Kranke» weiter an den Rand der Gesellschaft verschoben und ihre Sichtbarkeit nahm ab. Demenzkranke sind in der Öffentlichkeit nicht sichtbar, und so folglich ihre Pflege auch nicht. Mit dieser Verschiebung wird auch die Arbeit der Pflegenden zunehmend unsichtbar. Im Hinblick auf den Faktor Geschlecht wirkt zudem der Umstand prekarisierend, dass diese Arbeit, wie das Konzept der horizontalen Segregation aufzeigt, historisch und aktuell überproportional häufig von Frauen erledigt wird. 

Die horizontale Segregation gibt Aufschluss über die Verteilung von Frauen und Männer in einem Berufsfeld. Diese Verteilung kann häufig in einem Ungleichgewicht sein und der Pflegejob ist ein Paradebeispiel für ein stark weiblich dominiertes Arbeitsfeld. Weiterhin zeigt die vertikale Segregation die hierarchische Verteilung von Frauen und Männer innerhalb eines Berufes auf. Im Pflegebereich lässt sich feststellen, dass unten in der Hierarchie, mit entsprechend weniger Lohn, die Stellen am häufigsten von Frauen besetzt sind, während weiter oben in der Hierarchie, entsprechend auch mit mehr Lohn, mehrheitlich Männer die Positionen innehaben. Dies bestätigen auch die Erfahrungen von Aline. Sie verdiente nicht viel und auch in der Geschlechterverteilung lässt sich das Muster wiederfinden: In ihrem Team gab es, ausser einem Mann, nur Frauen, und die höchste Chefposition ist von einem Mann belegt, welcher wiederum «wenig Ahnung von Pflege hat». Die geschlechterspezifischen Stereotypisierungen finden sich in Alines Fall wieder: Sie erzählt uns, wie Patient:innen sie auf Grund ihres Geschlechts bevorzugten und von ihr gepflegt werden wollten, weil «sie es besser macht». Dabei musste sie selbst erst viel während der Arbeit erlernen und machte Fehler: «Ich musste erst lernen, wie man jemanden richtig hält. Es ist sehr wichtig und kann, wenn es falsch ausgeübt wird zu Verletzungen führen». Gerade die körperliche Arbeit und ihr eigener Körper war Aline während ihrer Berufsausübung stets bewusst: «Die Person, die unsere Arbeitskleidung entwarf, hatte keine Ahnung von der Arbeit in der Pflege.» Enge Hosen und tiefer Ausschnitt kennzeichnen die Kleidung. Zwar entwickelte Aline Techniken beispielsweise den tiefen Ausschnitt mit einem Top darunter zu bedecken. Aber sexistische Äusserungen oder vulgäre Blicke musste sie dennoch ertragen und prägen sie bis heute. Eine Aufarbeitung dieser Sexualisierung gab es im Team nicht und es wurde nicht darüber geredet. Falls es doch zur Sprache kam, dann in Form einer (Selbst-)kritik und die Frauen seien schuld an den Blicken: Zu nett oder zu sexy angezogen. Eine Verarbeitung der Erlebnisse fand Aline im Gespräch mit ihren Kolleginnen oder beim Malen. Es gab aber auch humorvolle Momente im Umgang mit den Demenzkranken oder gute Gespräche mit den Patient:innen bzw. im Team. Die grosse Wertschätzung der Patient:innen für Alines Arbeit war ein wichtiger positiver Aspekt. Dieser wurde im Jahr 2020 durch ein welterschütterndes Ereignis verstärkt: COVID-19 trat in die Gesellschaft ein.

Es gibt noch viel zu tun

Mit dem Ausbruch der COVID-19-Pandemie gewannen die Begriffe ‘Essential Worker’ und ‘Systemrelevant’ an Bedeutung. Pflegeberufe und Care Arbeit wurden plötzlich zur wichtigsten Arbeit zur Erhaltung der Gesellschaft und somit stark diskutiert. Endlich wurde den lauten Rufen der letzten Jahre auch Gehör geschenkt. Aber wie viel ist davon nun im Jahr 2022 geblieben? Geblieben ist eine ernüchternde Bilanz, so Aline. Zwar wurde den Berufen im medizinischen Bereich etwas mehr Beachtung geschenkt, was auch gut und wichtig ist, aber über die Altersbetreuung wurde wenig geredet. Die am 28. November 2021 angenommene Pflegeinitiative hat zum Ziel, dass Bund und Kantone bessere Arbeitsbedingungen schaffen und finanzielle Unterstützung leisten. Auf die Frage, was sie von der Pflegeinitiative hält zögert Aline und zuckt mit den Schultern. Es sei sicher ein Schritt in die richtige Richtung, aber halt ein kleiner. «Eine zufriedenstellende Lösung ist es nicht.» Die unregelmässigen Arbeitszeiten, viele Abend- und Nachtschichten, der chronische Stress während der Arbeit in Kombination mit dem geringen Lohn, veranlassen, so Aline, viele zum Ausstieg nach maximal 5 Jahren. Es zeigt sich somit durch die Pflegeinitiative einerseits und Alines eigenen Erfahrungen andererseits, welche schwierigen Bedingungen vorliegen. Obwohl Aline im Nachhinein stolz auf ihre Arbeit ist, überwiegen die negativen Aspekte und vielen Momente der Überforderung in ihrer Erinnerung, welche schlussendlich nach nur einem Jahr zur Kündigung führten.

Die Kündigung fiel ihr leicht, erzählt sie uns, nicht zuletzt wegen des langen Arbeitswegs, des andauernden Lärms und die vielen stressigen Situationen. Unregelmässigen Arbeitszeiten hatte Aline in ihrer Position als Hilfsassistentin nicht, weiss aber von ihrem damaligen Team, dass dies mit einer der wichtigsten Kündigungsgründe ist neben Überarbeitung. Für Aline muss vieles für Pflegende geändert werden und mit dem Pandemieausbruch hat sich die Situation verschlimmert. Die dringendsten Veränderungen müssen für Aline in der Entlohnung passieren. Auch besserer Schutz für die Arbeiter:innen vor Diskriminierungen, wie auch psychologische Betreuung, muss für Aline angeboten werden. Sexuelle Belästigungen sollten benannt und enttabuisiert, sowie eine Anlaufstelle für diese Fälle bereitgestellt werden.

Publication Date:

02 August 2022

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Authors:

Mia Eichmüller, Antonia Stephan