Madlaina Jost, Noelia Yuste Juli 2022
Neue Blogserie: Systemrelevante Arbeit?
Im Rahmen des Praxisseminars «Gender Perspectives on Paid and Unpaid Work in the Global South and Global North” im Frühlingssemester 2022 wurden von den Studierenden Blogbeiträge als Leistungsnachweis verfasst. Die Texte werfen einen Blick auf bezahlte und unbezahlte Carearbeit und bieten einen Einblick in verschiedene Lebensrealitäten. Die Intersektionalität der in den Berufsfeldern der Hebammen, Pflegefachpersonen und Sexarbeitenden tätigen Personen wird in den Interviews deutlich sichtbar gemacht, ebenso wie das Spannungsfeld zwischen bezahlter und unbezahlter Arbeit und politischem Engagement.
Im ersten Teil des Seminars nahmen die Studierenden an einem Massive Open Online Course der Universität Kathmandu teil, der sich mit der Arbeitswelt im globalen Süden befasst, wobei der Schwerpunkt auf den Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf bezahlte und unbezahlte Arbeit liegt. Die Blogbeiträge entstanden im zweiten Teil und reflektieren in den Interviews den im Seminar vermittelten theoretischen Rahmen und die Realitäten von Carearbeitenden im Globalen Norden.
«Pflegerinnen sind systemrelevant» – wertschätzenden Bemerkungen dieser Art, gerne im generischen Femininum formuliert, sind wir zu Beginn der COVID-19 Pandemie in den Medien beinahe täglich begegnet. Die Pandemie hat uns scheinbar ein neues Bewusstsein für unsere kollektive Abhängigkeit von zuvor unterschätzten Berufsgruppen verschafft. Diese neu gewonnene Wertschätzung bewegte viele Menschen jeden Abend auf ihre Balkone zum gemeinsamen Applaudieren – im Sinne einer moralischen Unterstützung und Anerkennung. Doch was ist davon heute konkret geblieben? Ein Blick zurück zeigt: Systemrelevanz ist wohl nicht gleich Systemrelevanz.
Care: Systemrelevant, aber nicht rentabel
Der Begriff der Systemrelevanz geht ursprünglich zurück auf die Finanzkrise von 2008. Damals bezeichneten Regierungen Banken und Finanzinstitute nach Platzen der Immobilienblase als essenzielle Infrastrukturen, ohne die die Wirtschaft und somit die Gesellschaft nicht funktionieren würden – kurz: diese wurden als systemrelevant gesehen. Es folgten staatliche Finanzspritzen, um die Wirtschaft am Leben zu halten.
In den vergangenen zwei Jahren, im Lichte der Covid-19 Pandemie, erlebte der Begriff der Systemrelevanz eine Art «revival» und wurde primär für Berufsgruppen verwendet, welche ihren Arbeitsplatz trotz staatlich verordnetem Lock- bzw. Shutdown nicht verlassen konnten. Unter anderen wurden Care-Berufe neu zu diesen systemrelevanten Berufen gezählt und somit als zentrale Stützen der Gesellschaft anerkannt. Der grosse Unterschied: Trotz des Status als systemrelevante Arbeit blieb eine finanzielle Unterstützung dieser Berufsgruppen bisher aus. Ein Zufall? Vermutlich nicht.
Care-Berufe zeichnen sich nicht nur durch ihre gesellschaftliche Relevanz aus. Ein hoher Frauenanteil, häufig prekäre und belastende Arbeitsbedingungen und eine dem Tätigkeitsbereich des «sich Kümmerns» geschuldete, nur bedingt mögliche Effizienz- und Gewinnmaximierung sind weitere Merkmale. In anderen Worten: Care-Berufe bringen der Gesellschaft sehr viel, generieren jedoch wenig direkten Gewinn für die Wirtschaft. Dies erlebt auch Lisa*, eine junge Hebamme aus dem Kanton Bern, mit der wir ein Gespräch führen durften. Sie berichtet uns von ihrem Beruf: davon, was sie bewegt, was sie umtreibt, und wie sie die Hochphasen der Corona-Pandemie als Hebamme erlebt hat.
Hebamme: Ein «Frauenberuf»
Wenig überraschend ist der medizinische Kontext geschlechtlich segregiert: Männer sind, z.B. als Ärzte, tendenziell in höheren Positionen als Frauen (vertikale Segregation), und es sind hauptsächlich die Frauen, die die fürsorgliche Arbeit, z.B. die Geburtshilfe, übernehmen (horizontale Segregation). In Lisas Alltag zeigt sich dies eindrücklich: Von den 18 angestellten Hebammen an ihrem Arbeitsort sind 17 Frauen, nur ein einziger Mann ist dabei – ein typischer «Frauenberuf». Solche «Frauenberufe» werden in unserer Gesellschaft aufgrund von geltenden Geschlechterrollen und -normen einerseits, und der eingangs beschriebenen, nur bedingt möglichen Effizienz- und Profitsteigerung andererseits abgewertet und dementsprechend tiefer entlohnt. Auf unsere Anfrage verrät uns Lisa, dass ihr Startlohn nach der Ausbildung bei rund 5'600 CHF liegen wird. Dazu kommentiert sie: «Der Lohn ist nicht extrem schlecht. Aber wenn man dann noch anschaut wie viel Pikettdienste wir machen, wie viel wir auf Abruf sind […] für acht Stunden Pikett bekommen wir 50 CHF, mit einer Stunde Bereitschaftszeit (ab Anruf, bis wir da sein müssen). Das geht wirklich gar nicht. Pikettentschädigung ist absolut schlecht. Dann gibt es noch Pikettdienst in der Nacht […] und du schläfst nicht gleich, wenn du auf Abruf bist. […] Das darf man nicht unterschätzen. […] Die Entschädigung müsste für das viel höher sein.»
Interessant ist, dass sich die Hebammen heutzutage ihrer ungünstigen Lohnsituation bewusst sind und sich nicht mehr alles gefallen lassen: Zur Vermeidung von Ungleichbehandlungen tauschen sie sich z.B. in einer WhatsApp-Gruppe über ihre Lohnverhandlungen aus und bilden so ein solidarisches Netzwerk.
Geburten halten sich nicht immer an Bürozeiten
Der grundsätzliche Gesundheitsauftrag von Hebammen ist familienorientiert, es geht also um beide Elternteile und das Kind oder die Kinder. Die Hauptaufgabe einer Hebamme ist es jedoch, in jedem Fall zu beobachten, dass die Klientin und ihr Baby psychisch und physisch gesund bleiben und Schwangerschaften oder Geburten möglichst unproblematisch verlaufen. Lisa arbeitet in einem kleinen Spital, in dem auf der Hebammenabteilung sowohl die Vorsorge während der Schwangerschaft, die eigentliche Geburtshilfe wie auch die Betreuung im Wochenbett auf der Tagesordnung stehen. Sie hat bisher hauptsächlich heteronormative Familien begleitet und bezieht sich auf die Gebärenden deshalb meistens als «Frauen».
Die Hebammen arbeiten in Früh-, Spät- und Nachtschichten. Unserer interviewten Hebamme Lisa gefällt die Schichtarbeit gut; so sieht sie etwa einen Vorteil darin, ihre Hobbies flexibel rund um ihre Arbeitszeiten arrangieren zu können. Auch die Nachtschicht bereitet ihr bislang keine Probleme. Es habe etwas sehr Beruhigendes, nachts in der Parallelwelt «Spital» zu sein. Gleichwohl ist sie sich bewusst, dass es im jungen Alter meistens noch einfacher ist, mit Schichtarbeit umzugehen und den Schlafrhythmus (un-)regelmässig anzupassen. Bei älteren Hebammen sehe die Lage oftmals anders aus: Für sie werde die Schichtarbeit zur Mühe. Irgendwann sei es, so Lisa, bereits aufgrund der Hormone nicht mehr möglich, den ganzen Tag durchzuschlafen und dann in der Nacht fit für die Arbeit zu sein.
«Die Frauen haben keine Priorität»
Nach der Arbeit fühlt sich Lisa grundsätzlich sehr zufrieden. Ihre Arbeit werde von den Gebärenden und deren gesamten Familien wertgeschätzt, und sie empfindet ihre Kernarbeit als «extrem schön». Das Vertrauen, das ihr entgegengebracht wird, und die Nähe zum neu entstehenden Leben faszinieren sie. Diese Sonnenseiten des Berufs werden jedoch von systeminhärenten Arbeitskonditionen getrübt:
«Geburtshilfe lohnt sich nie für ein Spital. Und das merkt man als Hebamme. […] Die Frauen haben keine Priorität. […] Man hat kein Interesse daran, wirklich gut zu arbeiten, obwohl man alle wissenschaftlichen Erkenntnisse hätte. […] Was mich frustriert, sind Systemdinge, die gegen uns arbeiten. Wenn ich drei Gebärende gleichzeitig betreuen muss, […] wenn ich weniger Zeit für Wochenbettbetreuung und -gespräche habe. Das wäre so relevant, aber die Arbeitslast ist zu gross, um das dann gut umsetzten zu können. Das ist dann null frauenorientiert.»
Weiter erzählt Lisa davon, dass die Pflege so viel Zeit benötigt, dass sie das Verfassen der Berichte auf Zeiten ausserhalb ihrer geplanten Arbeitsstunden verlegen muss. So arbeite sie manchmal nach einer Spätschicht, um Mitternacht, noch zwei Stunden länger, um zu dokumentieren, was durch den Tag geschehen ist. Es ist ihr wichtig, diese Dokumentationsarbeit exakt aufzuführen, da sie noch am Beginn ihrer Karriere steht, und deshalb alles richtig machen möchte.
Corona wirkt verunsichernd und erhöht den Druck
Berufe im Care-Sektor wurden von den Auswirkungen der COVID-19 Pandemie überproportional getroffen. Dies ist einer der Gründe, weshalb Frauen stärker unter der Pandemie gelitten haben. Pflegende waren dem Coronavirus durch den engen Kontakt zu anderen Menschen stärker ausgesetzt. Dies hat Lisa am eigenen Leib erfahren.
In Lisas Spital mussten die Gebärenden keine Masken tragen, das Personal jedoch schon. Als zusätzliche Massnahme wurde mehr Abstand gehalten, sowohl zwischen Hebammen und Klientinnen, als auch innerhalb des Hebammenteams. Diese Veränderung im Arbeitsablauf war für Lisa einschneidend, denn sowohl der verbale als auch der emotionale Austausch, z.B. in Form von Umarmungen unter den Mitarbeitenden nach einer herausfordernden medizinischen Situation seien für den Teamzusammenhalt sehr wichtig.
Weiter wurden aufgrund der Pandemie die Besuchszeiten stark eingeschränkt. So durfte in der Hochphase der Pandemie während der Geburt nur eine Bezugsperson anwesend sein. Diese Massnahmen waren für die werdenden Eltern sehr schwer zu akzeptieren. Die Gebärenden litten einerseits darunter, weniger Unterstützung von ihrer Familie zu erfahren, zum Beispiel, weil Geschwister nicht mehr bei der Geburt dabei sein konnten, und andererseits, einen weniger persönlichen und nahen Kontakt zu ihrer Hebamme zu pflegen. Für den anderen Elternteil sei es aufgrund der verkürzten Besuchszeiten schwieriger gewesen, in der neuen Familiensituation «anzukommen» und eine emotionale Bindung zu seinem Kind aufzubauen.
Die Anspannung im gesamten Spital war zu der Zeit sehr gross. Die Angst vor dem Virus und die grosse Unsicherheit im Umgang damit haben zu einer zusätzlichen Belastung geführt: «Auch bei den Frauen. Du wusstest einfach nicht, was das mit ihnen macht, das Corona. Schwangere hatten schwere Verläufe, wirklich schwere. Es hat viele Verlegungen gegeben in Zentralspitäler, die dann mit Notfallkaiserschnitt endeten, weil das Mami Corona hatte. Ich glaube, das war auch das, was man im Team mega gemerkt hat. Die Unsicherheit», berichtet Lisa.
Diese starke Belastung ist jedoch kein neues Phänomen. Bereits vor der Pandemie haben viele Hebammen ein Burnout erlitten. Lisa erklärt uns, dass 43% aller Hebammen ihren Job aus Erschöpfung nach fünf Jahren verlassen. Auch sie wird ab dem kommenden Sommer ihr Pensum auf 80% reduzieren. «Das überlebt man sonst nicht lange», meint sie überzeugt.
Ein Problem mit System
Lisas Zeugnis ist kein Einzelfall. Viele Berufe, welche mehrheitlich von Frauen ausgeführt werden, sind unterbezahlt und beinhalten massive Zusatzbelastungen. Die Erkenntnis, dass der Arbeitsmarkt keine neutrale Institution darstellt, ist hier zentral. Geburten sind ökonomisch nicht rentabel und laut Lisa haben Spitäler deshalb Geburtenabteilungen oft nur zur Imagepflege und Patient:innenanwerbung (da sich Patient:innen vielleicht einmal denken werden, dass sie bei späteren medizinischen Anliegen wieder zum selben Spital gehen, in dem sie bei der Geburt ihres Kindes bereits eine gute Erfahrung gemacht haben). Somit überrascht es auch nicht, dass Pflegeberufe während der Corona-Pandemie nicht zusätzlich finanziell unterstützt wurden. Banken sind ökonomisch ergiebiger und somit vermeintlich «überlebenswichtiger» für die Wirtschaft als Pflegeberufe. Was dabei vergessen geht ist der Fakt, dass die Wirtschaft ohne die un- bzw. unterbezahlte, sie erst ermöglichende Care-Arbeit ihr Rückgrat verlieren würde. Um dieser Erkenntnis Rechnung zu tragen, fordert Lisa systemische Veränderungen und eine Wertschätzung der Pflegeberufe: nicht nur klatschend, sondern auch in Form von würdigen Arbeitsbedingungen.
* Name geändert
Publikationsdatum:
25. Juli 2022
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Autor_innen:
Madlaina Jost, Noelia Yuste