In La condition fœtale (2004) beschreibt Luc Boltanski die Ambivalenz, die die kulturellen und gesellschaftlichen Umgangsweisen mit dem Fötus prägt: Er erscheint zugleich als unsichtbares medizinisches Objekt, als Projektionsfläche sozialer Erwartungen, als rechtlich normiertes Leben im Werden und als intimes Geheimnis. Diese Gleichzeitigkeit des Sichtbaren und Unsichtbaren, des Privaten und Politischen, der Körpererfahrung und der gesellschaftlichen Zuschreibung strukturiert in besonderer Weise auch die Erzählungen und Praktiken rund um Schwangerschaftsabbruch und Fehlgeburt. Damit ist der Fötus nicht nur ein Grenzfall individueller Erfahrung, sondern auch ein paradigmatisches Objekt biopolitischer Regulierung im foucaultschen Sinn: An ihm verdichten sich Diskurse, die über Leben, Körper und Bevölkerung verfügen und so normative Ordnungen von Sexualität und Reproduktion herstellen. Zugleich eröffnet sich ein Spannungsfeld, in dem unterschiedliche Öffentlichkeiten und Gegenöffentlichkeiten aufeinandertreffen: Während juristische und medizinische Diskurse den Fötus in Normen und Kategorien fassen, entstehen in autobiographischen, literarischen oder künstlerischen Darstellungen Räume, die sich der hegemonialen Logik entziehen. In diesem Sinne lassen sich viele Narrative über Abtreibung und Fehlgeburt auch als Formen dessen verstehen, was Lauren Berlant (2008) als counterpublics beschrieben hat: kommunikative Räume, in denen marginalisierte Erfahrungen artikuliert und gegen dominante moralische und politische Ordnungen in Stellung gebracht werden. Schwangerschaftsabbruch und Schwangerschaftsverlust erscheinen so nicht nur als medizinisch-rechtliche Fragen oder individuelle Schicksale, sondern als Schnittstellen, an denen sich Konflikte um Sichtbarkeit, Anerkennung und die Deutungshoheit über den gebärenden Körper verdichten.
Die gegenwärtigen Debatten um Abtreibung und Schwangerschaftsverlust zeigen die Dringlichkeit des Themas: die Rücknahme von Roe v. Wade in den USA, die Aufnahme des Rechts auf Abtreibung in die französische Verfassung im Jahr 2023, aber auch die anhaltenden Kontroversen um die personhood des Embryos und die Regulierung von Reproduktion. Gleichzeitig sind es nicht nur juristisch-politische Auseinandersetzungen, die das Feld prägen, sondern auch literarische, künstlerische und autobiographische Zeugnisse. Das inzwischen vielleicht prominenteste Beispiel ist Annie Ernaux’ L’événement (2000), das in seiner kompromisslosen Nüchternheit ein zentrales Dokument feministischer Literaturgeschichte darstellt. Zugleich verdeutlicht der Text paradigmatisch, wie literarische Sprache Erfahrungen des Abbruchs und deren gesellschaftliche Verurteilung sichtbar macht und dabei die starke Individualität und Subjektivität solcher Erfahrungen prägnant hervorhebt.
Das geplante Themenheft möchte die Interferenzen und Spannungen zwischen Körper, Medizin, Recht, Ethik, Gesellschaft und Subjektivität in Bezug auf Schwangerschaftsabbruch und Fehlgeburt in den Blick nehmen. Dabei sollen unterschiedliche zeitliche, kulturelle und soziale Kontexte berücksichtigt werden. Das Heft versteht sich als Plattform für eine interdisziplinäre Diskussion, die die lange medizinhistorische und anthropologische Dimension von Abtreibung und Fehlgeburt ebenso ernst nimmt wie deren aktuelle literarische, künstlerische und politische Aushandlungen. Ziel ist es, ein Panorama von Zugängen zu eröffnen, das die Schnittstellen von Körper, Wissen, Normen, Praktiken und Erfahrung in diesem hochsensiblen Feld sichtbar macht.
Wir laden Beiträge aus allen relevanten Disziplinen ein – unter anderem der Sozial- und Kulturanthropologie, Empirischen Kulturwissenschaft, Medizingeschichte, Medienwissenschaft, Soziologie, Hebammenwissenschaft, Humanmedizin, Rechts- und Geschichtswissenschaft, Literatur- und Kulturwissenschaft, Kunstgeschichte, Filmwissenschaft, Philosophie und Ethik, Gender Studies sowie den Medical/Health Humanities. Dabei sind auch interdisziplinäre Zugänge willkommen.
Beiträger:innen könnten sich u. a. mit folgenden Perspektiven auseinandersetzen – oder aber ganz eigenen Fragestellungen entwickeln und eigens gewählten Kontexten nachgehen:
- Praktiken und Körperlichkeiten:
Wie gestalten sich alltägliche Praktiken, Rituale und symbolische Ordnungen rund um Abbruch und Fehlgeburt? Welche Rolle spielen Hebammen, Ärzt:innen, Engelmacher:innen, Heiler:innen, religiöse Akteure, Familien und Gemeinschaften? Welche transkulturellen Vergleiche lassen sich ziehen – etwa zwischen lokalen Wissenssystemen, biomedizinischen Diskursen und global health-Programmen? - Narrative und Repräsentationen:
Wie werden Abtreibung und Fehlgeburt in literarischen Texten, autobiographischen und autofiktionalen Erzählungen, künstlerischen Arbeiten, Filmen, digitalen Medien oder performativen Praktiken dargestellt? Welche Metaphern, ästhetischen Verfahren und Narrative von Scham, Schmerz, Schweigen oder Widerstand strukturieren diese Darstellungen? - Historische und gesellschaftliche Dimensionen:
Welche historischen Praktiken – von traditionellen Hausmitteln bis zu modernen gynäkologischen Verfahren – lassen sich rekonstruieren? Wie spiegeln sich rechtliche, medizinische oder religiöse Normierungen in individuellen und kollektiven Umgangsweisen wider? Welche Sichtbarkeits- und Unsichtbarkeitsregime prägen Diskurse über Abbruch und Fehlgeburt in unterschiedlichen Epochen und Kulturen? - Theoretische Reflexionen:
Wie helfen soziologische, anthropologische, kulturwissenschaftliche oder feministische Konzepte (etwa bei Boltanski, Illouz, Berlant) beim Verständnis von Reproduktion, Körper, Mutterschaft, Subjektivität und Geschlecht? Wie lassen sich intersektionale Perspektiven (Gender, Klasse, Race, Alter, Behinderung, Religion) produktiv einbinden? - Affekt, Erinnerung, Verwandtschaft:
Welche Formen von Trauer, Gedenken oder genealogischer Neuordnung entstehen im Zusammenhang mit Abbruch oder Fehlgeburt? Wie wirken diese Erfahrungen in individuelle Biographien, kollektive Erinnerungen und Verwandtschaftsstrukturen hinein?
Zeitplan und Einreichung:
Abstracts (ca. 350 Wörter zzgl. Literaturangaben sowie kurze bio-bibliographische Angaben; Beitragssprachen: Deutsch und Englisch) bis 15. Dezember 2025 an: florian.luetzelberger uni-bamberg de
Rückmeldung über die Annahme während der Winterpause
- Einreichung der vollständigen Beiträge bis 1. Juni 2026
- Peer-Review-Verfahren und Überarbeitungen über den Sommer
- Geplantes Erscheinen des Themenhefts im Herbst/Winter 2026
Die Zeitschrift Curare bietet seit 1978 ein internationales und interdisziplinäres Forum für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit medizinanthropologischen Themen, die sämtliche Aspekte von Gesundheit, Krankheit, Medizin und Heilung in Vergangenheit und Gegenwart in allen Teilen der Welt umschließt. Beiträge werden auf Deutsch und Englisch veröffentlicht und einem doppelblinden Peer Review-Verfahren unterzogen. Curare erscheint open access unter https://curarejournal.org/ojs/index.php/cur, die Druckversion im Reimer Verlag Berlin.
Publikationsdatum:
10. November 2025
Frist:
15. Dezember 2025
Themen: