Antigenderismus aus biologischer Sicht

Analysen

Prof. Dr. Kerstin Palm August 2018

Argumentationen gegen den ,Genderismus‘ berufen sich bekanntlich häufig auf die Biologie, insbesondere die biologische Evolution des Menschen, denn diese hätte unwiderlegbar zwei Geschlechter hervorgebracht und genetisch fixiert. Diese Vorgänge zu leugnen, wie dies der ,Genderismus‘ mit seiner Theorie der Geschlechtervielfalt täte, sei nicht nur realitätsverkennend und weltfremd, sondern stelle die Genderforschung letztlich auch auf eine Ebene mit irrationalen beziehungsweise religiösen Bewegungen wie beispielsweise dem Kreationismus. Mit dieser Argumentation lässt sich auf verschiedene Weise kritisch umgehen. Sehr häufig wird die Biologisierung von Geschlechterdifferenz als solche zurückgewiesen und mit dem Verweis auf die sozialen und kulturellen Dimensionen von Geschlechterdifferenz eine sozial- bzw. kulturwissenschaftliche Perspektive dagegengesetzt. Das ist auf jeden Fall EINE angemessene wissenschaftliche Reaktion, die gleichwohl aber ein Problem produziert: sie wiederholt und bestätigt genau diese Gegenüberstellung von Biologie und Genderforschung noch einmal, die in den Argumentationen des Antigenderismus behauptet wird.

Bild: Gender Campus Redaktion

Ich möchte hingegen vorschlagen, diese Bestätigung zu durchbrechen und vielmehr auch als gendertheoretisch informierte Biologin, also mit den Mitteln der Biologie, gegen eine solche Argumentation vorgehen. Denn meines Erachtens stehen sich Biologie und Genderforschung nicht ausschließend gegenüber, sondern das transdisziplinäre Projekt der Genderforschung umfasst ja alle Fächer und integriert neben den Geistes- und Sozialwissenschaften auch die Natur- und Technikwissenschaften. Auch die Biologie sollte wie alle anderen Fächer etwa sozial- und kulturwissenschaftlicher Ausrichtung auch auf fachlicher Augenhöhe fachintern kritisiert und genderinformiert korrigiert werden. Andererseits kann die Biologie aber auch in ihren wissenschaftlichen Potenzialen für die Geschlechterforschung genutzt werden, beispielsweise um den prägenden Einfluss von geschlechtsspezifischer Sozialisation auf die physiologische Formung des Körpers (Gehirnentwicklung, Muskelentwicklung) zu diskutieren. Denn ebenso wenig wie verunglimpfende sozial- oder kulturwissenschaftliche Aussagen die Sozial- oder Kulturwissenschaften als solche in Frage stellen, sondern vielmehr zu einer profunden fachinternen Kritik herausfordern, sind auch problematische biologische Aussagen nicht einfach verallgemeinernd mit dem Fach Biologie insgesamt zu identifizieren, sondern biologieintern auf Augenhöhe zu kritisieren.

Es ist aus dieser Perspektive beispielsweise auffällig, dass insbesondere Biologen und Biologinnen wie z.B. die Evolutionsbiologen Ulrich Kutschera (Kassel) oder Axel Meyer (Konstanz), die antigenderistische Positionen vertreten, aber auch andere, die sich auf Biologie beziehen, in ausgeprägtem Maße gegen die einfachsten Regeln der naturwissenschaftlichen Methodenstandards verstoßen. Der Forschungsstand wird beispielsweise nur sehr einseitig ausgewertet in Richtung auf die Bestätigung der eigenen Überzeugungen, die zitierte Forschungsliteratur ist teilweise sehr veraltet und im neueren Wissensbestand des Faches gar nicht mehr gültig. Anstatt sorgfältiger Herleitungen und fundierter naturwissenschaftlicher Argumente fallen des weiteren die vielen Vermutungen, Assoziationen und polemischen Unterstellungen auf, mit denen versucht wird, der Genderforschung eine mangelnde wissenschaftliche Basis vorzuhalten. Der kritische biologieinterne Blick kann hier gut herausarbeiten, dass nicht etwa DIE BIOLOGIE gegen die Genderforschung zu Felde zieht, sondern vielmehr eine extreme Verballhornung von Biologie, die sowohl die Genderforschung als auch in ganz massiver Weise das Fach Biologie diskreditiert.

Ich möchte diese noch abstrakt bleibenden Kritikpunkte an einem kurzen Beispiel erläutern. Der Evolutionsbiologe Kutschera stellt in seinem 2016 erschienenen Buch “Das Genderparadoxon“ die embryonale Geschlechtsentwicklung als einen genetisch simplen Vorgang dar, bei dem in den ersten Wochen aus der Zygote zunächst ein geschlechtsneutraler und dann ein primär weiblicher Körper entstünde. Durch ein spezifisches auf dem Y-Chromosom liegendes Mastergen (Sry) erfolge dann ab der sechsten Schwangerschaftswoche eine aktive ‚Umsteuerung‘ in Richtung auf eine Entwicklung männlicher Geschlechtsorgane. Da den weiblichen Embryonen dieses Mastergen mangels Y-Chromosom fehle, gelte das weibliche Geschlecht als Mangelgeschlecht, das ohne die Aktivität des Mastergens entstünde.

Diese Darstellung entspricht allerdings einem Entwicklungsmodell, wie es in den Lehrbüchern der 1990er-Jahre nach der Beschreibung dieses spezifischen Sry-Gens als sex determining factor zu finden war. Zwischenzeitlich ist dieses Modell in der Biologie aufgrund seines androzentrischen Bias kritisiert und durch Forschungsergebnisse der letzten zwanzig Jahre umfassend verändert (vergl. dazu ausführlich Heinz-Jürgen Voß 2010, Making sex revisited. Rekonstruktion des Geschlechts aus biologisch-medizinischer Perspektive. Transkript, Bielefeld, 237-313, zu den geschlechtsdeterminierenden Wirkungen von über einem Dutzend von Genen wie z.B. SOX8, SOX9, FOXL2, RSPO1 uvm.). Das heutige biologische Entwicklungsmodell von Geschlecht betont die Nichtbinarität und systemische Multifaktorialität der Entstehung von Geschlechtsorganen, die sowohl durch komplexe genetische Netzwerke einer Vielzahl aktiver Gene von zwölf verschiedenen Chromosomen (also nicht nur X- und Y-Chromosomen) als auch durch damit verquickte Umweltbedingungen bedingt sei. Gemeinsam mit einer hohen lebenslangen physiologischen und anatomischen Plastizität des Körpers und insbesondere des Gehirns führe dies eher zu einem Spektrum biologischer Geschlechtlichkeiten. Damit entfallen die Vorstellungen vom primären weiblichen Geschlechtskörper, vom weiblichen Mangelwesen oder der nur männlicherseits aktiven Entwicklung und biologische Geschlechtlichkeit ist darüber hinaus nicht einfach binär durch zwei differente Chromosomenpaare XX und XY bestimmt.

Kutschera setzt dessen ungeachtet die XX-XY-Differenz als Fundamentalbasis aller physiologischen, anatomischen und psychologischen Differenzen zwischen Mann und Frau und leitet daraus ohne biologische Belege einen atemberaubenden Strauß an geschlechterstereotypen Charaktereigenschaften ab. Anders als Kutschera es in seinem Vorwort ankündigt, handelt es sich bei seinem Buch „Das Gender-Paradoxon“ damit nicht um ein biologisches Fachbuch, sondern um ein wissenschaftlich fragwürdiges Pamphlet, das die Biologie als Wissensautorität vorschiebt, um eigenen ideologischen Perspektiven auf die Genderforschung eine Aura der Objektivität und Faktizität zu verleihen. Nicht nur die sozial- und geisteswissenschaftliche Genderforschung, sondern vor allem auch die Biologie sollte sich gegen diese Indienstnahme zur Wehr setzen, indem sie die Ergebnisse der aktuellen biologischen Forschung differenziert und sachlich fundiert entgegenstellt.

Mein Plädoyer also an die durch Gendertheorie unterstützte biologische Forschung: der sich auf die Biologie berufende Antigenderismus sollte auch effektiv aus der gendertheoretisch informierten biologischen Perspektive kritisiert und in seinen populistischen Charakteristika offengelegt werden. Damit wird es zugleich möglich, Genderforschung und Biologie kooperativ zusammenzuführen und eine fundierte Basis für eine biologisch informierte Genderforschung zu bereiten.

Dieser Text ist ein bearbeiteter Auszug aus dem Text “Fake Evolution. Eine biologisch basierte Kritik an Anti-Genderismusrekursen auf die Biologie.“ Erschienen in: L’Homme. Europäische Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft, 28/2, 2017, S. 109-114.

Bild: Gender Campus Redaktion

Publikationsdatum:

13. August 2018

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Prof. Dr. Kerstin Palm