Die Hegemonie der linearen Uhrenzeit ist durch Effizienzlogiken in kapitalistischen Gesellschaften geprägt. Die damit verbundene Zeit-ist-Geld-Logik führt zu vielfältigen Zeitkonflikten – etwa zu Zeitstress und Zeitarmut für Sorgeleistende oder zu kollektiver Ohnmacht angesichts der langanhaltenden Effekte von Umweltzerstörung und Extraktivismus. Wer wie viel und welche Zeit zur Verfügung hat, hängt ganz maßgeblich von den materiellen und gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen ab. Die Verteilung von Zeit ist vergeschlechtlicht und in intersektionale Ungleichheitsverhältnisse eingebettet.
Theorien der Zeit aus queerer, feministischer, ökologischer, dekolonialer, ableismus-kritischer oder intersektionaler Perspektive betonen differente Zeitlichkeiten und ihre Hierarchisierung im euro- und androzentrischen Kapitalismus. Differenz wird etwa verzeitlicht, indem durch hegemoniale und lineare Zeitlichkeiten andere Zeitlichkeiten als „rückständig“ markiert werden. Begriffe wie Chrononormativität oder crip timeverdeutlichen, wie hegemoniale Zeitlichkeit heteronormative und ableismus-zentrierte Normierungen und Normalisierungen von Zeit hervorbringen. Feministische Zeittheorien betonen etwa die Spezifik der Zeitlichkeit von Sorge, die sich durch Gleichzeitigkeiten, zyklische Temporalität und begrenzte Planbarkeit auszeichnet. Zeit und Temporalität spielen folglich eine zentrale Rolle in der Aufrechterhaltung hierarchischer und intersektionaler Geschlechterverhältnisse.
Diese vielfältigen zeittheoretischen Zugänge verweisen auf die Notwendigkeit emanzipatorischer und partizipativer Zeitpolitiken. Feministische Zeitpolitiken zielen beispielsweise auf die Umverteilung und Reduktion von Lohnarbeitszeit, die Verlangsamung von gesellschaftlichen und politischen Prozessen oder auf die Anerkennung von differenten Temporalitäten. Sie werfen zentrale Fragen nach gesellschaftlicher und politischer Partizipation auf und analysieren die zeitlichen Voraussetzungen für demokratische Teilhabeprozesse – insbesondere für feminisierte Sorgeleistende und prekarisierte Gruppen. Insofern stellen emanzipatorische Zeitpolitiken einen wichtigen Hebel für demokratische Teilhabe und somit auch eine wirksame Strategie gegen akzelerationistische rechte und (neo-)faschistische Politiken dar.
In der Politikwissenschaft, wie in der politischen Theorie, der Rechtspopulismus-forschung, der Migrationsforschung oder in den Internationalen Beziehungen besteht ein Forschungsdesiderat hinsichtlich zeittheoretischer und zeitpolitischer Perspektiven auf Geschlecht. In der politikwissenschaftlichen Geschlechterforschung werden Zeittheorien und Zeitpolitiken eher getrennt voneinander diskutiert und nehmen eine marginale Stellung ein. Dabei könnte die feministische Politikwissenschaft von den interdisziplinären queertheoretischen, dekolonialen, ableismuskritischen, ökologischen und feministischen Zeittheorien profitieren, um herrschende und marginalisierte Zeitpolitiken zu analysieren.
Dieses Schwerpunktheft möchte daher das Thema Zeit und Politik in den Mittelpunkt feministischer politikwissenschaftlicher Überlegungen rücken, insbesondere im Kontext wachsender sozialer und ökonomischer Ungleichheit und multipler Krisen. Wir wollen einen Blick auf die theoretischen Grundlagen von Zeit, Politik und Geschlecht sowie auf die Bedingungen und Folgen von Zeitpolitiken aus feministischer Perspektive werfen.
Wir laden theoretische, konzeptionelle und empirische Beiträge ein, die sich aus unterschiedlichen feministischen Zeitperspektiven mit herrschaftskritischen Theorien und Politiken der Zeit auseinandersetzen. Mögliche thematische Schwerpunkte sind feministische zeittheoretische und zeitpolitische Perspektiven auf: soziale und/oder ökologische Re_Produktionsprozesse, Sorgeverhältnisse, Partizipation und Demokratie, Kolonialität, Ableismus, Heteronormativität, Zeit und Raum oder widerständige feministischen Praktiken.
Abstracts und Kontakt
Der Schwerpunkt wird inhaltlich von Friederike Beier und Hanna Völkle betreut. Wir bitten um ein- bis zweiseitige Abstracts bis zum 30. November 2025 an friederike.beier fu-berlin de und voelkle posteo de oder an die Redaktionsadresse redaktion femina-politica de.
Die Femina Politica versteht sich als intersektional feministische Fachzeitschrift. Sie fördert wissenschaftliche Arbeiten von Frauen und anderen geschlechtlich marginalisierten Personen (wie etwa trans*, inter*, nicht-binären oder geschlechternonkonformen Personen) in und außerhalb der Hochschule und lädt zum Einreichen inhaltlich qualifizierter Abstracts ein. Wir freuen uns über Beiträge jenseits eines weißen, eurozentrischen, cis-heteronormativen Feminismus.
Abgabetermin der Beiträge
Die Schwerpunktverantwortlichen laden auf der Basis der eingereichten Abstracts zur Einreichung von Beiträgen ein. Der Abgabetermin für die fertigen, anonymisierten Beiträge im Umfang von 35.000 bis max. 40.000 Zeichen (inklusive Leerzeichen, Fußnoten und Literatur) ist der 15. März 2026. Die Angaben zu den Autor*innen dürfen ausschließlich auf dem Titelblatt erfolgen. Alle Manuskripte unterliegen einem Double Blind Peer-Review-Verfahren. Pro Beitrag gibt es ein externes Gutachten (Double Blind) und ein internes Gutachten von den Herausgeber*innen. Ggf. kann ein drittes Gutachten eingeholt werden. Die Rückmeldung der Gutachten erfolgt bis spätestens 15. Mai 2026. Die endgültige Entscheidung über die Veröffentlichung des Beitrags wird durch die Redaktion auf Basis der Gutachten getroffen. Der Abgabetermin für die Endfassung des Beitrags ist der 15. Juli 2026.
Publikationsdatum:
10. Juli 2025
Frist:
30. November 2025
Themen:
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