#7: «Es wurde immer mehr, immer mehr Massnahmen, immer mehr leisten»

(in)égalité

Chiara Guasso, Claudio Richard septembre 2022

Neue Blogserie: Systemrelevante Arbeit?

Im Rahmen des Praxisseminars «Gender Perspectives on Paid and Unpaid Work in the Global South and Global North” im Frühlingssemester 2022 wurden von den Studierenden Blogbeiträge als Leistungsnachweis verfasst. Die Texte werfen einen Blick auf bezahlte und unbezahlte Carearbeit und bieten einen Einblick in verschiedene Lebensrealitäten. Die Intersektionalität der in den Berufsfeldern der Hebammen, Pflegefachpersonen und Sexarbeitenden tätigen Personen wird in den Interviews deutlich sichtbar gemacht, ebenso wie das Spannungsfeld zwischen bezahlter und unbezahlter Arbeit und politischem Engagement.

Im ersten Teil des Seminars nahmen die Studierenden an einem Massive Open Online Course der Universität Kathmandu teil, der sich mit der Arbeitswelt im globalen Süden befasst, wobei der Schwerpunkt auf den Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf bezahlte und unbezahlte Arbeit liegt. Die Blogbeiträge entstanden im zweiten Teil und reflektieren in den Interviews den im Seminar vermittelten theoretischen Rahmen und die Realitäten von Carearbeitenden im Globalen Norden.

Quelle: https://de.freepik.com/vektoren-kostenlos/leute-die-auf-balkone-klatschen_7560064.htm

«Es wurde immer mehr, immer mehr Massnahmen, immer mehr leisten – und gleichzeitig wurde man immer müder.»

Sarah (Name geändert) ist diplomierte Pflegefachfrau und zwei Jahre nach Ausbruch der COVID-19-Pandemie aus dem Beruf ausgestiegen. Wir haben sie für ein Interview getroffen und wollten wissen, welche Erfahrungen sie während der Pandemie gemacht hat und was sie zur Aufgabe ihres Berufes bewogen hat. Im Gespräch erfuhren wir von den strukturellen Problemen im Pflegebereich, die durch die Pandemie noch verschärft wurden. Zudem haben wir über Veränderungen gesprochen, die sich Sarah wünscht, um wieder im Beruf arbeiten zu können.

Ausnahmezustand statt Auszeit

«Als wir dann wieder zurückkommen mussten, war es ziemlich heftig. Ich habe noch Bilder vom Flughafen vor meinen Augen. Viele Flüge waren gecancelt worden. Auf fünf Bildschirmen waren alle Flüge annulliert, ausser einer: Und das war unser Flug. Die ganze Zeit sind wir diesen Bildschirmen nachgelaufen und haben gehofft: Bitte bleib grün, bitte bleib grün!» Sarah hatte ihre Stelle als Pflegefachperson gekündigt und wollte in ihrer Auszeit Asien bereisen. Doch statt der geplanten sechs Monate musste sie bereits nach sechs Tagen wieder in die Schweiz zurückkehren. Das COVID-19-Virus breitete sich global aus und hatte mittlerweile auch die Schweiz erreicht. Es bestand eine grosse Nachfrage nach berufserfahrenen Pflegefachpersonen wie Sarah: «Ich rief meine ehemalige Chefin noch aus den Ferien an und sagte: Du, ich habe gehört, du hast von dann bis dann zu wenig Leute. Wenn du willst, bin ich wieder da.» Anstatt sich im Urlaub zu erholen, kehrte Sarah zurück zu ihrer ehemaligen Arbeitsstelle und arbeitete mehr als vor der Auszeit.

Auswirkungen auf den Arbeitsalltag

Die Pandemie führte zu grossen Veränderungen in der Arbeitswelt: Viele Menschen verloren ihren Job oder wurden auf Kurzarbeit gesetzt, andere arbeiteten von einem Tag auf den anderen zu Hause im Homeoffice. Es gab aber Berufsgruppen, die auch während der Pandemie ihre Arbeit vor Ort verrichteten, trotz der Gefahr einer COVID-19 Infektion. Dazu gehören die Pflegefachpersonen wie Sarah. Ihr Beruf als Pflegefachfrau im Notfalldienst des Spitals wurde offiziell als «strukturrelevant» eingestuft. Auch Sarah definiert ihren Beruf als strukturrelevant: «Ich glaube, wenn man in der Bevölkerung die Pflege wegstreichen würde, dann litten alle darunter. Wenn die Pflege wegfällt, sind es nicht nur Hintern, die nicht geputzt werden: Medikamente werden nicht mehr angepasst, wichtige Informationen werden nicht mehr an den Arzt weitergeleitet, denn wir verbringen am meisten Zeit mit den Patient:innen.» Ohne den Pflegebereich würden alle Menschen darunter leiden und die Gesundheitseinrichtungen könnten nicht mehr funktionieren. Trotz unterschiedlich starker Veränderungen im Arbeitsalltag waren alle Arbeitnehmenden von Sekundärfolgen betroffen: Lockdowns und die damit einhergehenden Schliessungen von Schulen, Kitas und weiteren Institutionen wirkten sich unter anderem auf eine Zunahme der unbezahlten Care-Arbeit aus, welche unverhältnismässig stark von Frauen* geleistet wurde und noch immer wird. Ein Anstieg von psychologischem und finanziellem Stress, sozialer Isolation oder Probleme im eigenen Haushalt erhöhten auch das Risiko von häuslicher Gewalt.

Teamgeist: Segen oder Fluch für die eigene Gesundheit?

Die Veränderungen im Arbeitsalltag wirkten sich auch auf die Dynamik in Sarahs Team aus. Sie spricht im Gespräch wiederholt vom unglaublich grossen Teamgeist während der Pandemie, der aber auch seine Schattenseite hatte: So wurden zusätzliche Schichten für andere übernommen, auch wenn der eigene Körper es kaum mehr aushielt und das Privatleben darunter litt. «Irgendwann hat man sich schon gefragt, springe ich jetzt fürs Team ein oder denke ich an meine Gesundheit?» Der moralische Druck, die Teamkollegen:innen nicht im Stich zu lassen, war in dieser Zeit unheimlich gross. Sarah musste ständig Schlaf nachholen, denn der fehlte oft während der Pandemie. Sie hatte keinen Rhythmus mehr, ass nicht mehr gesund, hatte vermehrt Kopfschmerzen und soziale Kontakte zu Familie und Freund:innen nahmen ab. Alles wurde immer mehr: mehr Massnahmen, mehr Leistung, mehr Müdigkeit. «Die Leute waren sich nicht bewusst, was es bedeutete, während der Akutphase im Spital zu arbeiten.»

In einer Gegenüberstellung von 25 europäischen Ländern zeigte sich, dass Frauen* über die Hälfte der positiv getesteten Personen ausmachten. Die Forscher:innen sehen in der Interaktion am Arbeitsplatz einen Grund dafür. Die Überrepräsentation von Frauen* in systemrelevanten Berufen mit direktem zwischenmenschlichem Kontakt (z.B. Pflege- und Bildungsberufe), hat grossen Einfluss auf die höhere Infektionsrate. Solche Berufe erfordern viel Interaktion und steigern damit das Infektionsrisiko. Frauen* waren somit öfters und direkter dem Virus ausgesetzt. «Patienten:innen trugen zum Teil keine Masken – was, wenn ich eine Grunderkrankung gehabt hätte?», erinnert sich Sarah. Auch infrastrukturelle Defizite erhöhten das Infektionsrisiko. Es gab nicht genügend Zimmer mit Unterdruck, also solche, welche die kontaminierte Luft filtern und direkt aus dem Gebäude abziehen. Masken gab es zeitweise auch nicht genügend, oder diese wurden von Besucher:innen bündelweise gestohlen. Das führte dazu, dass das Pflegepersonal meist mit einer einzigen Maske am Tag auskommen musste.

Immer weniger Zeit für immer mehr Patient:innen

Während die Arbeitsbelastung in der zweiten und dritten Welle bei Pflegenden im Spital im Vergleich zu 2019 um 38% zunahm, war es in Sarahs Abteilung besonders prekär. Eine Studie der Uni Bern zeigt, dass die Arbeitsbelastung auf Not- und Intensivstationen um 61% zunahm. Bereits vor der Pandemie war die Lage für Sarah unbefriedigend. Als Pflegefachpersonen hatte man schon damals wenige Minuten pro Patient:in zur Verfügung. «Es wäre schön mehr Zeit für die Patienten:innen zu haben, um sich mit ihnen auch unterhalten zu können. Dieser ständige Kompromiss: wenn ich hier fünf Minuten länger brauche, dann erhält die nächste Person fünf Minuten weniger. Wenn man genügend Personal hätte, wäre das kein Ding.» Während der Pandemie wurde die Notfallstation von Sarahs Arbeitsbetrieb um ein Testzentrum mit überregionalem Einzugsgebiet erweitert. Das hiess auf demselben Raum und mit demselben Personal zusätzliche Patient:innen versorgen und betreuen.

Eine Auszeit für die eigene Gesundheit

Irgendwann war Sarah von der steigenden Arbeitsbelastung komplett überfordert: «Mein Körper signalisierte mir, dass ich etwas ändern musste, aber ich hatte keine Kraft mehr, etwas dagegen zu tun, auch psychisch nicht. Da meinte mein Vater zu mir: Warum hörst du nicht auf zu arbeiten? Warum machst du nicht eine Pause?»

Sarah war körperlich am Ende, aber finanziell gut aufgestellt. Sie konnte es sich leisten, aus dem Beruf auszusteigen, wobei sie auch von ihrer Familie unterstützt wurde. Sie nahm sich die Zeit, um wieder einen geregelten Schlaf-Rhythmus zu finden, sich richtig zu ernähren, Sport zu treiben und wieder mehr Zeit mit Familie und Freund:innen zu verbringen. Nach ihrer Auszeit sind diese Dinge zu Grundsätzen geworden, nach denen sie zukünftig ihre Arbeit ausrichten will. Die Lohnarbeit soll also nicht wie zuvor ihr Privatleben bestimmen: Keine Nachtschichten mehr und allgemein mehr Raum für ihre psychische und körperliche Gesundheit.

Unbezahlte Care-Arbeit

Mit der erneuten Kündigung auf der Notfallstation war Sahras Arbeit in der Pflege aber nicht vorbei. Da der Gesundheitszustand ihres Grossvaters sich verschlechtert hatte, entschied sie sich, ihn fortan zu pflegen. «Angehörigen-Pflege könnte man deklarieren und vom Staat dafür etwas erhalten. Aber dieser ganze bürokratische Aufwand für etwas, das ich einfach meinem Grossvater zuliebe tun wollte, war es mir nicht wert. Ich entschied mich es sein zu lassen und lieber mehr Zeit mit meinem Grossvater zu verbringen.» Die bürokratische Hürde, Pflegeleistungen für ihren Grossvater im Voraus beim Kanton anzumelden, hielt Sarah also davon ab, sich für ihre Arbeit finanziell entschädigen zu lassen. Ihre Arbeit hatte sich also zeitweise vom bezahlten in den unbezahlten Sektor verschoben. Damit gehört Sarah laut Pflegehilfe Schweiz zu den 7,6% der Schweizer:innen, welche ihre Angehörigen selbst betreuen.

Auch mit ihrer Entscheidung, aus Frustration und Erschöpfung ihren Beruf aufzugeben, steht Sarah nicht alleine da. Der Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner (SBK) schätzt, dass 2022 im Vergleich zum Vorjahr zusätzliche 300 Pflegende pro Monat ihren Beruf niederlegen werden. Dies ist ein Indiz für die Missstände in vielen Pflegeberufen und verlangt nach Veränderungen, die auch Sarah fordert. Sie ist politisch aktiv und hat die Forderungen der Pflegeinitiative unterstützt. Mit einer Fahne auf dem Balkon, Buttons auf der Arbeitstasche und dem Verteilen von Stickern hat sie für ein „Ja“ bei der Abstimmung geworben. Damit hat sie sich aber nicht immer beliebt gemacht, insbesondere am Arbeitsplatz oder in der Nachbarschaft.

Applaus alleine reicht nicht

Nach Annahme der Initiative im November hat Sarah noch einen Monat bei ihrer alten Stelle weitergearbeitet. Veränderungen hat sie in dieser Zeit noch keine wahrgenommen. Eine ähnliche Enttäuschung, wie sie im Mai 2020 zu Beginn der COVID-19-Pandemie empfunden hatte, als auf vielen Balkonen in der Schweiz, in Italien, Frankreich und anderen Ländern applaudiert wurde. Das Klatschen sollte die Dankbarkeit ausdrücken, welche die Bevölkerung dem unablässig auch im Lockdown arbeitenden Pflegepersonal gegenüber fühlte. «Es war ja eine schöne Aktion, als sie applaudiert haben. Wir Pflegenden meinten: Ja, das ist super, der Applaus ist sehr dankbar. Aber bitte, wenn wieder über etwas abgestimmt wird, dann stimmt nicht für die Kampfjets. Denn die bringen im Moment gar nichts. Wir arbeiten hart, doch als Pflegefachperson kannst du kaum eine Familie ernähren. Die Kosten steigen, aber der Lohn bleibt der gleiche.»

 

* Wir schreiben immer dezidiert von "Frauen*", um auf die Konstruiertheit der Geschlechtskategorie hinzuweisen.

Date de publication:

04 septembre 2022

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Auteur·e·s:

Chiara Guasso, Claudio Richard