#6: «Sexarbeit ist Care-Arbeit»

(dis)uguaglianza

Sabrina Dötzl, Natascha Flückiger agosto 2022

Neue Blogserie: Systemrelevante Arbeit?

Im Rahmen des Praxisseminars «Gender Perspectives on Paid and Unpaid Work in the Global South and Global North” im Frühlingssemester 2022 wurden von den Studierenden Blogbeiträge als Leistungsnachweis verfasst. Die Texte werfen einen Blick auf bezahlte und unbezahlte Carearbeit und bieten einen Einblick in verschiedene Lebensrealitäten. Die Intersektionalität der in den Berufsfeldern der Hebammen, Pflegefachpersonen und Sexarbeitenden tätigen Personen wird in den Interviews deutlich sichtbar gemacht, ebenso wie das Spannungsfeld zwischen bezahlter und unbezahlter Arbeit und politischem Engagement.

Im ersten Teil des Seminars nahmen die Studierenden an einem Massive Open Online Course der Universität Kathmandu teil, der sich mit der Arbeitswelt im globalen Süden befasst, wobei der Schwerpunkt auf den Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf bezahlte und unbezahlte Arbeit liegt. Die Blogbeiträge entstanden im zweiten Teil und reflektieren in den Interviews den im Seminar vermittelten theoretischen Rahmen und die Realitäten von Carearbeitenden im Globalen Norden.

Hürlimann, Brigitte, Naomi Gregoris, Noëmi Landolt, Harriet Langanke, Juno Marc, Serena O. Dankwa, Eva Schumacher, Miriam Suter und Appell «Sexarbeit ist Arbeit» (Hg.) 2020: Ich bin Sexarbeiterin. Porträts und Texte. Zürich: Limmat Verlag.

Sexarbeit ist Care-Arbeit – Für die Anerkennung und Wertschätzung eines immer wieder vergessenen Berufs

Im Zuge der Corona-Pandemie hat Care-Arbeit mehr Sichtbarkeit erhalten. Die Krise hat die Diskussion um den Wert der Care-Arbeit neu entfacht. Während die klassischen Pflegeberufe im Zentrum der gesellschaftlichen Debatte standen, ging ein wesentlicher Bereich der Care-Arbeit einmal mehr vergessen – die Sexarbeit. Wir werfen den Blick auf ein Gewerbe, das noch immer nicht als Arbeit anerkannt und wertgeschätzt wird.

Am 16. März 2020 hat der Bundesrat wegen des Coronavirus die «ausserordentliche Lage» ausgerufen. Der landesweite Lockdown brachte das öffentliche Leben weitgehend zum Erliegen. Öffentliche und private Veranstaltungen wurden verboten. Ebenso wurden Betriebe mit Dienstleistungen im Bereich der körpernahen Tätigkeiten geschlossen. Da war die Rede von Nagelstudios, Coiffeur- und Massagesalons. Die Sexarbeit wurde schlichtweg nicht erwähnt. Dies, obwohl Sexarbeit in der Schweiz einen wesentlichen wirtschaftlichen Zweig darstellt. Gemäss den Schätzungen von Alexander Ott, Amtsleiter der Fremdenpolizei der Stadt Bern, waren im Jahr 2020 zwischen 13'000 und 25'000 Menschen in der Sexarbeit tätig - 95% davon Frauen. Insgesamt ist das Sexgewerbe ein lukratives Geschäft. Laut Ott liegt der Umsatz im Milliardenbereich.

Die Problematiken für Sexarbeiterinnen während des Lockdowns

Im Zuge des landesweiten Lockdowns fehlte es den Sexarbeiterinnen an Informationen zur genauen Rechtslage. Die Fachstellen für Sexarbeit – von denen es in der Schweiz ohnehin zu wenige gibt – stiessen bald an ihre Kapazitätsgrenzen. Neben der Informationsbeschaffung, rechtlichen Abklärungen und ihrer Haupttätigkeit, der Beratung und Unterstützung von Sexarbeiterinnen, mussten die Fachstellen insbesondere Wohnmöglichkeiten schaffen und finanzielle Nothilfe organisieren sowie Übersetzungsarbeit leisten.

«Sexarbeiterinnen konnten von einem Tag auf den anderen nicht mehr arbeiten. Viele sind obdachlos geworden, weil viele dort leben, wo sie arbeiten», so Nathalie Schmidhauser, wissenschaftliche Mitarbeiterin bei ProCoRe (Prostitution Collective Reflexion), dem nationalen Netzwerk zur Verteidigung der Interessen von Sexarbeitenden in der Schweiz. Ott bestätigt die Gefahr, dass Sexarbeiterinnen in die Obdachlosigkeit gedrängt wurden: «Die Bordellbetreibenden haben gesagt: ‘Wenn ihr [die Sexarbeiterinnen] nicht mehr arbeiten könnt, dann müsst ihr auch nicht mehr hier wohnen!’ Und haben sie quasi auf die Strasse gestellt». Nicht überall war das der Fall. In Betrieben, wo Sexarbeiterinnen weiterhin wohnen durften, wurden allerdings teils die Mieten erhöht, sodass die Frauen in eine Abhängigkeit gerieten und Gefahr liefen, ausgebeutet zu werden.

Weitere finanzielle Schwierigkeiten, welche wegen des Berufsverbots zustande kamen, waren fehlende Gelder für Nahrungsmittel und Hygieneartikel. Sexarbeiterinnen drohten, noch mehr in die Armut abzurutschen. So kam es vor allem für die 95% der aus Osteuropa migrierten Frauen zu einer Prekarisierung der Lage.

Ohne die Möglichkeit auf eine Heimreise wegen der geschlossenen Grenzen, mussten sie in der Schweiz an Geld kommen. Sexarbeiterinnen aus Drittstaaten haben unter Umständen Anspruch auf staatliche Unterstützung, wenn sie über die nötige Aufenthaltsbewilligung (Ausweis B oder C) inklusive allfälliger Arbeitsbewilligung verfügen und Sozialversicherungsabgaben bezahlen. Sexarbeiterinnen aus EU/EFTA-Staaten hingegen, welche im Meldeverfahren mit einer 90-Tage Bewilligung arbeiten, haben keinen Anspruch auf staatliche Unterstützung.

Je nach Aufenthaltsstatus also konnten während der Corona-Krise selbständig erwerbende Sexarbeiterinnen eine Erwerbsersatzentschädigung beantragen und Sexarbeiterinnen in einem Anstellungsverhältnis hatten Anspruch auf Kurzarbeit. Schmidhauser und Ott kennen jedoch kaum Sexarbeiterinnen, die Erwerbsersatz beantragt haben. Ausserdem ist ihnen kein einziger Fall einer Sexarbeiterin bekannt, die Kurzarbeit erhalten hat.

Die Gründe dafür sind struktureller Natur. Anträge auf staatliche Hilfe sind mit hohen bürokratischen Hürden verbunden, die besonders für migrantische Sexarbeiterinnen oft unüberwindbar sind. Zum Beispiel existiert das Formular für die Auszahlung der Corona Erwerbsersatzentschädigung offiziell auf Deutsch, Französisch und Italienisch. Viele Sexarbeiterinnen sprechen diese Sprachen nicht oder schlecht. Abgesehen von sprachlichen Barrieren haben Sexarbeiterinnen oft einen erschwerten Zugang zu Informationen, begrenzte finanzielle Mittel und Angst vor Stigmatisierung.

Selbst wenn Sexarbeiterinnen finanzielle Unterstützung erhalten, dann genügt dies meist nicht, um die Auslagen zu decken. Wenn die genannten Unterstützungsmassnahmen nicht ausreichen, können Sexarbeiterinnen unter Umständen Sozialhilfe beantragen. Hier liegt das Hauptproblem darin, dass der Bezug von Sozialhilfe seit Inkrafttreten des neuen Ausländer- und Integrationsgesetzes Anfang 2019 ausländerrechtliche Konsequenzen haben kann.

Was die Schliessung des Sexgewerbes angeht, gab es laut Schmidhauser von Seiten der meisten Sexarbeiterinnen Verständnis. Der Lockdown wurde schweizweit verhängt und galt für alle körpernahen Dienstleistungen. Die Problematik war nur: «Alle anderen haben staatliche Unterstützung bekommen und die Sexarbeiterinnen nicht. Aus diesem Grund haben viele aus finanzieller Not weitergearbeitet und sind extrem kriminalisiert und gebüsst worden», so Schmidhauser.

Ab dem 6. Juni 2020 war Sexarbeit wieder erlaubt. Es galten dieselben Einschränkungen wie für andere öffentlich zugängliche Betriebe. Der Bund hat sich klar positioniert und festgehalten, dass das Sexgewerbe ein Gewerbe wie jedes andere ist. Für Schmidhauser ist das ein wichtiges Statement für die Anerkennung von Sexarbeit als Erwerbstätigkeit, aber lange nicht ausreichend.

Die Illegalisierung der Sexarbeit in Folge der Kantonalen Verbote

Mit dem Auftreten der zweiten Corona-Welle im Herbst 2020 haben einzelne Kantone entschieden, das Sexgewerbe teilweise oder ganz zu verbieten. «Das Sexgewerbe wird stigmatisiert als dasjenige Gewerbe, in dem das Ansteckungsrisiko hoch ist. Dies, obwohl es dafür keine Beweise gibt. Es stimmt nicht, dass es mehr Corona-Fälle in Bereich der Sexarbeit gab», so Schmidhauser. Sie betont überdies, dass Sexarbeiterinnen jahrelange Erfahrungen in der Umsetzung von Schutz- und Hygienemassnahmen haben.

Verbote schaden den Sexarbeiterinnen. Die Kriminalisierung bzw. Illegalisierung der Sexarbeit hat schwerwiegende Konsequenzen. ProCoRe warnt die Öffentlichkeit und Politik vor den negativen Auswirkungen. Sie verweisen auf diverse Studien und Publikationen, die belegen, dass Gewalt, Ausbeutung und Gesundheitsrisiken durch Illegalisierung massiv zunehmen. Die kantonalen Verbote hatten eine enorme Prekarisierung der Arbeits- und Lebensbedingungen zur Folge. Sexarbeiterinnen wurden in Nischen verdrängt, wo sie für Fachstellen schwer erreichbar waren. Hinzu kommt, dass sich Sexarbeiterinnen im Verborgenen schlecht vor Ausbeutung und Gewalt schützen konnten. Ausserdem hat sich das Klientel verändert. «Es waren nicht mehr die Stammkunden, sondern gewalt- und risikobereite(re) Kunden». Diese erhöhten den Druck auf Preise und ungewollte Praktiken, zu denen auch ungeschützter Geschlechtsverkehr zählt. Das wiederum erhöhte die Zahlen ungewollter Schwangerschaften und sexuell übertragbarer Infektionen.

Für die kantonalen Verbote gab es von Seiten der Sexarbeiterinnen kein Verständnis. «Die Verbote galten nur für das Sexgewerbe. Alle anderen Berufe im Bereich der körpernahen Dienstleistungen sind erlaubt gewesen. Das ist die totale Diskriminierung und Stigmatisierung», so Schmidhauser. Alle paar Jahre gebe es politische Vorstösse, die Verbote fordern. Die Corona-Krise wurde genutzt, um erneut vorzupreschen mit diesen abolitionistischen Ideen». Nur weil es Verbote gibt, verschwindet die Sexarbeit aber nicht plötzlich. «Es sind strukturelle Gründe, die zur Sexarbeit führen. Das heisst, Verbote nützen nichts. Im Gegenteil. Es wird einfach immer prekärer». Die existentiellen Nöte, die (wenig sichtbar) schon vor der Pandemie existierten, spitzten sich zu einer Prekarisierung zu. Dabei stellt sich die Frage, wie die rechtliche und soziale Position der Sexarbeiterinnen sowie deren Arbeitsbedingungen verbessert werden können.

Für die Entstigmatisierung der Sexarbeit jenseits von binären Debatten

Die öffentlichen und politischen Debatten über Sexarbeit diskutieren, ob diese überhaupt als «freiwillige» Arbeit anerkannt werden kann oder ob es sich dabei um Zwang handelt. Diese Frage polarisiert und teilt die öffentliche Debatte in zwei Lager mit unterschiedlichen moralischen und politischen Standpunkten. Grund dafür ist, dass die Thematik mit Kultur, Moral und Struktur einer Gesellschaft zusammenhängt und in Verbindung mit Themen wie globalen Macht- und Geschlechterverhältnissen, sozioökonomischen Verhältnissen, Sexualität, Migration und Rassismus steht.

In der Schweiz ist Sexarbeit seit 1942 eine legale Erwerbstätigkeit. Gleichzeitig galt sie bis Januar 2021 als sittenwidrig und damit als Verstoss gegen moralische Werte. Diese in der Schweiz jahrelang vorherrschende rechtlich paradoxe Situation entspricht einer weit verbreitenden Doppelmoral: Sexarbeit wird faktisch akzeptiert, aber moralisch verurteilt. In Zusammenhang mit dem Thema Sexarbeit komme immer die «Moralkeule», so Ott. «Die Gesellschaft ist nicht in der Lage, darüber zu reden, weil es tabuisiert wird.»Aber: «Sexarbeit ist eine gesellschaftliche Realität – unabhängig davon, ob man sie als gut oder schlecht, moralisch fragwürdig, normal oder schlicht als ein notwendiges Übel empfindet» (Hürlimann 2004: 1).

Sexarbeit ist ein Bereich tiefer sozialer Ungerechtigkeit, der nicht losgelöst von gesellschaftlichen Machtverhältnissen, strukturellen Ungleichheiten und ungleichen Privilegien betrachtet werden kann. Zur Verbesserung der prekären Arbeitsbedingungen braucht es weder restriktive noch liberale rechtliche Regulierungen, sondern vielmehr Initiativen gegen die Stigmatisierung und Diskriminierung von Sexarbeiterinnen. Um Abhängigkeiten, Ausgrenzungen sowie prekäre Arbeits- und Lebensumstände von Sexarbeiterinnen zu vermeiden, sind Anerkennung und Wertschätzung nötig, was nur durch Entstigmatisierung erreicht werden kann. Dies ist eine politische und eine akademische Aufgabe. Mit diesem Blog wollten wir unseren Beitrag dazu leisten.

 

Quelle Zitat Hürlimann

Hürlimann, Brigitte 2004: Prostitution. Ihre Regelungen im schweizerischen Recht und die Frage der Sittenwidrigkeit. Zürich: Schulthess.

Date di pubblicazione:

29 agosto 2022

Discipline:

Autrici/autori:

Sabrina Dötzl, Natascha Flückiger