#4genderstudies: Zur Relevanz der Geschlechterforschung als Reflexionswissenschaft

Dibattito Analisi

Elisabeth Joris dicembre 2018

Geschlechterforschung reflektiert auf Ungleichheit basierende Machtverhältnisse und deren Wirkung in allen Bereichen der Gesellschaft, auch in der Wissenschaft. Angestossen von der Frauenbewegung hat sie nach ihrer Etablierung in Universitäten ihre eigenen theoretischen Grundannahmen ständig reflektiert und differenziert. Sie hat nicht nur auf blinde Flecken bezüglich geschlechtsspezifischer Ungleichheiten in den Rechts-, Geistes- und Sozialwissenschaften verwiesen, sondern ebenso im Bereich der technischen und naturwissenschaftlichen Forschung. So hat die Geschlechterforschung aufgrund ihrer intensiven Auseinandersetzung mit Fragen von Differenz ihre wissenschaftliche Relevanz bis heute zunehmend erweitert.

Väter, Töchter, Tanten, Cousins, Schwestern und Bekannte: die Beziehungen zwischen den Migrant*innen, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Pastafabrik der Familie Del’Oro in Brig arbeiten, sind vielschichtig und komplex. Gleichzeitig spiegeln sie unterschiedliche Positionen, die Frauen und Männer in der Welt der Erwerbsarbeit zugewiesen werden. (Foto von der Autorin zVg)

Die im Dezember 2018 in den Schweizer Medien verbreitete Nachrichten über sexuellen Machtmissbrauch beim Sitz der international tätigen Beratungsfirma EY (Ernst & Young) in Zürich zum einen, in der Architekturabteilung der ETH zum andern, hat der Notwendigkeit, die geschlechtsspezifischen Dimensionen gesellschaftlich bedingter Machtverhältnisse zu reflektieren, neuen Schub verliehen. Als wirtschaftsmächtige Akteurin, die sich nicht gemüssigt sah, sich mit solchen Fragen auseinanderzusetzen und weiterhin glaubte, die Angelegenheit unter den Teppich wischen zu könnten, geriet EY unter den Druck der Aktion #EYtoo. Dagegen plädierte Philip Ursprung, Vorsteher des Departements Architektur der ETH, für lückenlose Aufklärung. Es gehe darum, die in der Schweiz dominierenden und ebenso in den Hochschulen wirkmächtigen patriarchalen und autoritären Strukturen kritisch zu reflektieren. Das impliziert für Ursprung die Fragen, was Architektur in der Gesellschaft heute und in Zukunft sein soll und wie sie das Zusammenleben verbessern kann.

Ungleichheiten im Fokus

Eben solche Fragen stellt die Geschlechterforschung nicht erst heute. Sie orientiert sich an der lebensweltlichen Wirksamkeit von Ungleichheiten und verknüpft diese mit Fragen der Macht. So kann die Geschlechterforschung mit ihren wissenschaftlichen Analysen zur Geschlechterungleichheit die Notwendigkeit von Gleichstellungsarbeit begründen und legitimieren. Diese Legitimation beinhaltet zugleich die wissenschaftliche Begleitung und Evaluation der Gleichstellungsarbeit, also Reflexion. Im Wissenschaftsbereich reflektiert die Geschlechterforschung den Erkenntniswert von Projekten, fragt aus welcher Perspektive geforscht wird, wer davon allenfalls profitiert, und immer auch, inwiefern geschlechterbedingte Machtverhältnisse daran beteiligt sind, dass gewisse Forschungsfragen stark unterbelichtet bleiben. Beispielsweise stellt sich die Frage, warum die unbezahlte Betreuungs- und Hausarbeit aus dem Bereich ökonomischer Forschung lange ausgeblendet blieb beziehungsweise deren wirtschaftliche Bedeutung erst auf Grund feministischer Interventionen errechnet und debattiert wurde. Ebenso hat sich erst die Geschlechterforschung für die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Angestellten im Detailhandel interessiert, obwohl diese bezüglich der Beschäftigtenzahlen weit über die Schweiz hinaus zu den wichtigsten Branchen gehört, also weit wichtiger ist als beispielsweise die Finanzbranche. So stellt sich aus der Perspektive der Geschlechterforschung die Frage, inwiefern diese Marginalisierung damit zusammenhängt, dass es sich vorwiegend um eine Frauen- und Tieflohnbranche handelt, in der insbesondere weibliche Angestellte, darunter viele Migrantinnen, unter prekären Verhältnissen in Teilzeit beschäftigt sind. Die Analyse solcher Ungleichheiten steht im Zentrum der Geschlechterforschung, denn als Reflexionswissenschaft, denkt sie darüber nach, wie eine gerechte, demokratische Gesellschaft konstituiert sein sollte. Sie stellt unhinterfragte Prämissen zur Debatte, wie die Selbstverständlichkeit, dass die täglichen Börsenkurse als zentraler Wirtschaftsfaktor wahrgenommen werden, nicht aber die alltäglich geleistete und gesellschaftlich unverzichtbare Care-Arbeiten. Sie analysiert, was für Vorstellungen von Geschlechterverhältnissen sich in Diskursen verstecken. So hat Joan W. Scott gezeigt, dass im Reden von Männern als «Väter ihrer Untertanen» in vormodernen Zeiten Verhältnisse eingeschrieben sind, die nicht nur die Unterordnung von Söhnen, sondern ebenso von Frauen und Müttern impliziert. Lynn Hunt, US-amerikanische Historikerin wie Scott, dekonstruiert in ihrem Werk «The Family Romance of the French Revolution» (1992) den Brüderlichkeits- und Gleichheitsdiskurs der Französischen Revolution. Er impliziert den Sturz der Väter und des alten Patriarchalismus. Die damit errungene Gleichheit ermöglichte die Versöhnung der Väter mit den Söhnen als Zugehörige zum selben Geschlecht, Vorstellungen, die sich bis heute zum Nachteil von Frauen als den Anderen auswirken.

Blinde Flecken

Der Reflexion solcher Auswirkungen hat sich die Geschlechterforschung verschrieben. So analysiert sie aus einer herrschaftskritischen Perspektive, warum Geschlechterfragen in der Regel meistens vorwiegend als Frauenthemen abgehandelt werden. Denn die Position derjenigen, denen implizit Macht zugesprochen wird, erscheint als das Gegebene, die Position der Anderen, ob auf Grund des Geschlechts, der Geschlechtsidentität, des Herkunftsmilieus, der Hautfarbe oder des Alters, als das vom «Normalen» Abweichende. Neben dem alltäglichen bedient auch der wissenschaftliche Diskurs die Vorstellung, als hätten lediglich «Frauen» ein Geschlecht, oder als hätten nur «Schwarze», nicht aber «Weisse» eine Hautfarbe, als hätten nur Trans-Gender, nicht aber Cis-Gender eine Geschlechtsidentität, als hätten nur Homo- nicht aber Heterosexuelle eine sexuelle Orientierung. In der Analyse von solchen Diskursen, die gesellschaftliche Ungleichheiten durch Nicht-Bezeichnung als naturgegeben erscheinen lassen, liegt die Relevanz der Geschlechterforschung: Sie macht blinde Flecken sichtbar. Denn jene Differenzen erweisen sich als am wirksamsten, deren Natürlichkeit besonders plausibel erscheinen und daher nicht thematisiert werden. So gilt es eben als normal, dass je nach Geschlechterzuordnung Arbeiten unterschiedlich bewertet und wahrgenommen werden, dass die im Rahmen der Familie geleistete Haus- und Betreuungsarbeit nicht zu entschädigen ist, dass die Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und familialer Pflichten immer nur als Frauenthema debattiert wird, ob es sich um die Erstellung von Kinderkrippen handelt oder um die Beschäftigung einer Hausangestellten zu niedrigem Lohn, die die besser bezahlte Erwerbstätigkeit ihrer Arbeitsgeberin erst ermöglicht. Solch einseitige machtbedingte Wahrnehmungsmuster schaffen Abhängigkeitsverhältnisse, die sich auf die Organisation des Geschlechterverhältnisses zu Ungunsten von Frauen auswirken, ökonomisch, aber auch bezogen auf Einfluss und Prestige. In der Reflexion von Ungleichheit produzierenden Diskursen und Praktiken liegt die gleichermassen wissenschaftliche und gesellschaftliche Relevanz der Geschlechterforschung.
Wie kaum eine andere Wissenschaft hat die Geschlechterforschung die Überlappung und wechselseitige Verstärkung von Ungleichheiten auf Grund von Gruppenzugehörigkeiten und damit zusammenhängender Zuschreibungen analysiert, im angelsächsischen Raum vor allem das Zusammenwirken von «race, class and gender». So fragt auch die Schweizer Historikerin Jovita dos Santos Pinto, warum im Kontext der ersten Wahl von Frauen in den Nationalrat nach Einführung des Frauenstimmrechts 1971, die Tatsache, dass mit der Neuenburgerin Tilo Frey, Tochter einer Kamerunerin und eines Schweizers, eine Schwarze Frau Einsitz im Nationalrat nimmt, in den Medien nicht kommentiert wurde, wohl aber, dass sie als einzige der ersten Nationalrätinnen ein weisses Kleid trägt. Die Langzeitwirkung dieses Nicht-Bezeichnens zeigte sich 2007, als die Medien schrieben, dass mit der Wahl von Ricardo Lumengo «erstmals ein Nationalrat afrikanischer Herkunft» gewählt wurde. Erst aufgrund von dos Santos Pintos Forschung wird in der Schweiz an Tilo Frey erinnert: der nach dem Rassisten Louis Agassiz benannte Platz in Neuenburg wurde 2018 in «Espace Tilo Frey» umbenannt. Ein aussagekräftiges Beispiel dafür, wie sich kritische race und gender-Ansätze wirksam verknüpfen lassen. In der Reflexion und Sichtbarmachung von Ungleichheiten ist wohl auch der Grund zu sehen, warum die Geschlechterforschung in den Fokus der politischen Rechten gerät, die immer wieder ihre Abschaffung, die Streichung der ihr zugesprochenen finanziellen Mittel oder sogar – wie jüngst mit einer konzertierten Attacke auf die an der Universität Basler lehrenden Soziologin Franziska Schutzbach – die Entlassung von Forschenden fordert.

Genderforschung und Selbstreflexion

Mit Rekurs auf das akademische Neutralitätsgebot wird die Geschlechterforschung aber ebenso von Kreisen der Wissenschaft kritisiert. Da die Frauen- und Geschlechterforschung durch die Frauenbewegung angestossen worden war, wird ihr wegen Parteilichkeit Unwissenschaftlichkeit vorgeworfen. Dieser Vorwurf liesse sich aber auch umkehren: Es ist zu fragen, wie sich durch den «male bias», männliche Voreingenommenheit, sowie durch Ausblendung des «weiblichen Lebenszusammenhanges» erzeugte Verzerrungen – wie im Bereich der Wirtschaftswissenschaften – in den Theorien und Untersuchungen der vorwiegend männlichen Forscher mit der Forderung nach Rationalität und Objektivität von Erkenntnis und Wissenschaft vertragen? In jeder Forschung, auch in Bereichen der Technik, der Agronomie, der Medizin und der Life-Sciences, sind die Interessen und Interessenten zu benennen, die von dieser Ausblendung profitieren. Indem die Geschlechterforschung solche Verzerrungen auf die wissenschaftliche Agenda setzte, forderte sie – entgegen des ihr gemachten Vorwurfs der Unwissenschaftlichkeit – die Einlösung von Objektivitätsansprüchen ein. Kurz: sie beinhaltet eine permanente Aufforderung zur Selbstreflexion.
Dieser Anspruch impliziert zugleich die kritische Selbstreflexion der eigenen Parteilichkeit. Diese spiegelt sich nicht nur in der Erweiterung der Geschlechterforschung durch die Männlichkeitsforschung, sondern auch in der ständigen Reflexion der eigenen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Positionierung, beispielsweise als weisse oder heterosexuelle Forscherin. Ebenso gefragt ist die ständige Reflexion der eigenen Forschungsansätze, so auch der Kategorie «Geschlecht», die – wie dies Anelis Kaiser und Patricia Purtschert im Gender Campus Blog vom Dezember 2017 am Beispiel des Zusammenhangs von Materialität und Geschlecht thematisiert haben – selber erklärungsbedürftig geworden ist, da sie vorwiegend binär gedacht war, als Männlichkeit und Weiblichkeit. Doch auch ältere Ansätze erweisen sich nicht einfach als «veraltet», vielmehr erfüllen sie neuen Forschungsfragen angepasst weiterhin analytische Funktionen. So verfügt die Geschlechterforschung heute über einen enormen Fundus von Erfahrungen in der Reflexion auf «Differenz» sowohl in Bezug auf Theorie als auch auf empirische Untersuchungen. Ein Wissen, das nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in der Politik dringend benötigt wird.

Date di pubblicazione:

18 dicembre 2018

Autrice/autore:

Elisabeth Joris