Forschung, die unter die Haut geht: Körper und Materialität in den Gender Studies

Analysen Debatten

Prof. Dr. Patricia Purtschert, Prof. Dr. Anelis Kaiser Trujillo Dezember 2017

Geschlecht hat immer auch mit Körper(n) zu tun. Nicht von ungefähr stellt die Frage, wie Materialität und Geschlecht zusammenhängen, einen Forschungsschwerpunkt der Gender Studies dar. Ungeachtet dieser Tatsache wird in der medialen Öffentlichkeit immer wieder behauptet, die Geschlechterforschung würde naturwissenschaftliche Erkenntnisse ignorieren und einem naiven Konstruktivismus huldigen. Als Paradebeispiel für diesen oberflächlichen Umgang mit Geschlecht werden gerne die Arbeiten von Judith Butler angeführt. Diese Darstellungen verkennen sowohl den Forschungsstand als auch das wissenschaftliche Selbstverständnis der Gender Studies.

In den Feuilletons deutschsprachiger Zeitungen werden die Gender Studies jüngst immer wieder auf einen simplifizierenden, falsch verstandenen Konstruktivismus reduziert. Als Lieblingsobjekt dieser verkürzten Lesart dienen – nach fünfundzwanzig Jahren noch immer – die Arbeiten der US-amerikanische Philosophin Judith Butler. So behauptete die FAZ unlängst, Butler verstehe Geschlecht als „frei wählbare Variable“ (FAZ vom 8.11.2017), die „unabhängig von Körper und Umwelt“ sei. Und die NZZ schrieb unter Berufung auf Butlers Werk, dass den Gender Studies eine „Verneinung naturwissenschaftlicher Standardtheorien“ (NZZ vom 17.3.2017) zugrunde liege. Beide Behauptungen sind falsch und bezeugen die Unwissenheit, die viele mediale Darstellungen der Gender Studies charakterisieren. Fakt ist: Für die Frage, wie Körper und Geschlecht überhaupt gedacht – und als Folge davon auch in naturwissenschaftlicher Forschung gemessen – werden können, waren Butlers Einsichten bahnbrechend. Sie hätten aber genauso gut von einer Forscherin aus der Biowissenschaft vorweggenommen werden können. Denn jede mit X und Y-Chromosomen operierende empirische Forscherin weiss, wie komplex sich Geschlecht auf der Ebene der Gene darstellt. Egal ob bei der Erforschung von Hormonen, Genitalien, Körperbehaarung, Muskelkraft, Körpergrösse, Fettanteilen oder des Gehirns, keine dieser körperlichen Gegebenheiten geht auf einen fix vorprogrammierten Bauplan zurück, der ausnahmslos binär funktioniert. Die Erkenntnis, dass Geschlecht ein komplexes, mehrdimensionales Phänomen ist, verbindet die Gender Studies mit der naturwissenschaftlichen Erforschung von Geschlecht.

Wissenstransfer in unterschiedliche Richtungen

Wie grundlegend naturwissenschaftliche Ergebnisse für die Gender Studies sind, lässt sich am kontinuierlichen Wissenstransfer in die Geschlechterforschung erkennen. Viele Erkenntnisse aus der Medizin, Biologie, Neurowissenschaft oder Technikforschung wurden in die Gender Studies importiert und integriert, wo sie in Theoriestränge eingebaut oder mit Hilfe eigener Methoden weiterentwickelt wurden. So wurde die medizinische Erkenntnis, dass sich bei Männern ein Herzinfarkt physiologisch anders manifestiert als bei Frauen, in den Gender Studies aufgenommen. Dies führte nicht nur dazu, dass neu über die Bedeutung differenztheoretischer Ansätze von Geschlecht nachgedacht, sondern dass auch sozialwissenschaftliche Forschung im Public Health Bereich vorangetrieben wurde. Die in der Primatenforschung gemachte Beobachtung, dass Affenweibchen sexuell genauso aktiv sind wie Männchen, fand Eingang in die Geschlechterforschung der 1980er Jahre, die sich im Kontext der Neuen Frauenbewegung der Frage der weiblichen sexuellen Selbstbestimmung widmete. Die in der Zoologie gewonnene Einsicht, dass sich weibliche Eichhörnchen, Hyänen und Kühe lustvoll gegenseitig besteigen, verhalf feministischen Forschenden, die „Natürlichkeit“ von Homosexualität zu denken. Das in der Endokrinologie ermittelte Resultat, wonach Bartwuchs unabhängig vom genetisch-geschlechtlichen Körper mit der Zugabe von Hormonen evoziert werden kann, prägte queer-feministische und Trans* Theorien über die Geschlechtsidentität. Die in der Technikforschung aufgebrochene Grenzziehung zwischen Mensch und Maschine inspirierte feministische Theorien dazu, den Cyborg als zentrale Figur zu erschaffen, mit dem auch die Grenze zwischen Mann und Frau auf neue Weise in Frage gestellt werden konnte. Und: Das kürzlich in der Neuroendokrinologie gewonnene Ergebnis, wonach der Testosterongehalt bei Männern in Abhängigkeit väterlicher Fürsorge und physischem Kontakt mit dem Nachwuchs variiert, wird zurzeit in denjenigen Gebieten der Gender Studies, die als Väterforschung bezeichnet wird, mit grossem Interesse zur Kenntnis genommen.

Parallel zur Integration von Erkenntnissen aus den Naturwissenschaften in die Gender Studies fand seit den 1970er Jahren zudem eine eigenständige Auseinandersetzung mit dem Körper und seiner Materialität innerhalb der Gender Studies statt. Diese wurde oftmals von naturwissenschaftlich ausgebildeten Wissenschaftlerinnen vorangetrieben, welche dafür eigene, interdisziplinäre Methoden entwickelten. Ruth Hubbard, Bonnie Spanier, Lynda Birke, Janet Sayers, Anne Fausto-Sterling, Joan Scott, Ruth Bleier, Londa Schiebinger, Barbara Duden, Helen Longino, Sandra Harding, Donna Haraway, Sarah Franklin, Adrienne Zihlman, Linda Fedigan, Sarah Hrdy, Nelly Oushourst oder Helga Satzinger sind nur einige Namen von Forscherinnen, die diese Auseinandersetzungen angestossen haben. Aktuell weitergeführt werden sie etwa von Karen Barad, Sarah Richardson, Cordelia Fine, Deboleena Roy, Sari van Anders, Daphna Joel, Rebecca Jordan-Young, Banu Subramaniam, Cynthia Kraus, Victoria Pitts-Taylor, Giordana Grossi, Sigrid Schmitz, Kerstin Palm, Odile Fillod, Corinna Bath, Petra Lucht, Emily Ngubia Kassé, Gillian Einstein, Catherine Vidal, Elizabeth Wilson, Malin Ah-King, Patricia Gowaty, Joan Roughgarden, Bruce Bagemihl oder Ruth Müller.

Körper von Gewicht

In den späten 1970er Jahren wurde die Unterscheidung zwischen sex und gender, die ebenfalls einer naturwissenschaftlich fundierten Forschung, nämlich der Sexualwissenschaft, entnommen wurde, wegleitend für die feministische Auseinandersetzung mit Geschlecht. Sex steht dabei für das biologische Geschlecht und wird an den körperlichen Unterschieden zwischen Männern und Frauen festgemacht. Und gender bezeichnet sozial bedingte und hierarchisch angeordnete Geschlechterunterschiede, die kulturell variieren, historisch veränderbar sind und durch die machtförmigen Strukturen der Gesellschaft hervorgebracht werden. Kurz: Wenn ein Kind zur Welt kommt, bestimmen körperlichen Gegebenheiten, ob es ein Mädchen oder ein Junge ist. Das ist sex, und was sex ist, das definieren die Biowissenschaften oder Medizin. Ob das Kind aber rosarote oder blaue Kleider trägt, ob es eine Puppe oder ein Spielzeugauto erhält, ob es häufiger als süss bezeichnet (und damit als Objekt betrachtet) oder als durchsetzungsfähig (und damit als Subjekt) wahrgenommen wird, bestimmen patriarchale gesellschaftliche Konventionen. Das ist gender. Der analytische Vorteil der Trennung zwischen sex und gender besteht darin, die vielen Kurzschlüsse aufzeigen zu können, die zwischen beiden Bereichen gemacht werden. Dass Frauen Kinder gebären, kann demnach auf die Biologie zurückgeführt werden. Dass sie für diese Kinder und für die ganze Familie kochen, putzen und waschen, ist hingegen eine kulturelle Norm, die sich aus der biologischen Gegebenheit nicht ableiten lässt. Impliziert wurde damit, dass sex unveränderlich gegeben, gender hingegen (mit Hilfe von gesellschaftlichen Aufklärungskampagnen, Protesten, politischen Massnahmen und sozialen Bewegungen) veränderbar ist. Entsprechend konzentrierten sich viele feministische Forscher*innen auf gender, denn sex lag im toten Winkel der Revolution.

Körper und Konstruktion

Die messerscharfe Trennung zwischen dem, was biologisch gegeben, und dem, was kulturell bestimmt ist, wurde anfangs der 1990er Jahre von Judith Butler radikal in Frage gestellt. Wie viele bahnbrechende wissenschaftliche Erkenntnisse, beruhen auch ihre auf einer simplen Feststellung: Unser Wissen über den biologischen Geschlechtskörper ist nicht unmittelbar der Natur entlehnt. Wir gewinnen dieses Wissen notwendigerweise mit Hilfe kultureller Techniken, insbesondere derjenigen der Sprache. Denn über Körper können wir nicht sprechen, ohne sie im Zuge dieses Sprechens auch zu „konstruieren“, das heisst mit Hilfe von Zeichensystemen hervorzubringen. Wenn sex bis zu einem bestimmten Grad kulturell hergestellt und damit gleichsam gender ist, dann liegt es nicht länger im toten Winkel der Revolution. Vielmehr kann dann gefragt werden, ob das angeblich Natürliche nicht doch zu einem gewissen Grad auf unsere kulturellen Vorstellungen von Natur zurückgeht.

Das bedeutet aber nicht, wie immer wieder behauptet wird, dass Geschlecht frei gewählt werden kann. In ihrem 1993 erschienen Buch Körper von Gewicht distanziert sich Butler deutlich von einer Do-It-Yourself-Geschlechtertheorie. Ihr Vorschlag, Gender als Konstruktion zu verstehen sei von einigen so gedeutet worden, als könne man sich morgens vor den Schrank stellen und sich ein Geschlecht aussuchen, um es abends wieder an seinen Platz zu legen. Ihr ging es aber vielmehr darum zu zeigen, dass die sozialen und kulturellen Normen, die auf den Körper einwirken, mit Zwängen einhergehen, die keineswegs leichtfertig abgeschüttelt werden können.

Ein Beispiel für diese Wirkmächtigkeit kultureller Normen ist die geschlechtsspezifische Sozialisation: Dass Körper, je nachdem ob sie als weiblich oder männlich klassifiziert werden, anders angefasst, anders angesprochen, zu anderen Körperhaltungen und Aktivitäten aufgefordert oder von diesen abgehalten werden, das schlägt sich in diesen Körpern nieder und formt sie mit. Der empathisch geknickte Kopf beim Zuhören, die breitbeinige Haltung, die bewusste Aufrechterhaltung einer schlanken Figur, der gezielte Aufbau von Muskeln, das leise oder laute Sprechen inkorporieren wir in unsere Geschlechtskörper, genauso wie sich die jahrelange Tätigkeit am Computer oder auf dem Kartoffelacker auf diesen niederschlägt.

Ein anderes Beispiel für die Wirkmächtigkeit kultureller Normen sind verallgemeinernde Aussagen über Geschlechterkategorien. Anschaulich lässt sich das anhand des oben erwähnten Beispiel des Gebärens aufzeigen, dem Paradebeispiel für den biologischen Geschlechterunterschied: Demnach können Frauen Kinder gebären und Männer nicht. Wie hilfreich ist dieses Verständnis von Geschlechterdifferenz? Wenig, wenn wir bedenken, dass es auf all jene Frauen nicht zutrifft, die zu alt oder zu jung sind, die Transfrauen sind, keine Gebärmutter haben, an möglichen Folgen von Salpingitis leiden oder deren Hormonhaushalt keine Schwangerschaft ermöglicht. Ganz zu schweigen davon, dass heute 34% der Frauen, die gebären, dies nicht auf „natürlichem“ Wege tun. Oder dass sie einer Eizellenspende bedürfen, damit keine Eizellen-produzierende Wesen sind und folglich, je nach Definition, nicht als Frauen gelten. Die Aussage „Frauen können Kinder gebären“ ist somit verkürzt und ungenau.

Was ist Materialität?

Wie jede Wissenschaft steht auch die Geschlechterforschung vor der Aufgabe, unzulässige Generalisierungen und ungenaues Alltagswissen in Frage zu stellen und Wege zu suchen, wie solches Wissen präzisiert, spezifiziert und erweitert werden kann. Die Aussage „Frauen können Kinder gebären“ hält die Vorstellung eines „weiblichen“ Körpers aufrecht und gestaltet sie mit. Da sie aber nur für einen Teil der Frauen gilt und damit unpräzise ist, müssen exaktere Möglichkeiten gefunden werden, um Geschlecht wissenschaftlich und umgangssprachlich zu erfassen. Die Aufgabe der Gender Studies ist an dem Punkt dieselbe wie diejenige jeder anderen Wissenschaft. Wenn sich Marie Curie mit dem damaligen Wissen über die chemischen Elemente zufriedengegeben hätte, wären Radium und Polonium nie entdeckt worden. Genau da, bei der Notwendigkeit, ungenaue Kategorisierungen aufzubrechen, treffen sich Butlers Einsichten mit der naturwissenschaftlich orientierten Geschlechterforschung.

Das ist aber noch nicht alles. Über die Bedeutung der sozialen Konstruktion von Geschlecht hinaus werfen Butlers Arbeiten eine brisante Frage auf, die die naturwissenschaftliche Geschlechterforschung bis heute umtreibt. Butler versteht die Materialität des Geschlechtskörpers als etwas, das durch wirkmächtige kulturelle Praktiken gestaltet wird, ohne dass sie gänzlich in diesen aufgehen würde. Was aber ist dieses Andere der Materalität, das durch kulturelle Praktiken geformt ist, nicht aber mit diesen in eins fällt? Wenn ein Junge kontinuierlich als Mädchen angesprochen wird, beeinflusst das mit grosser Wahrscheinlichkeit sein Verhalten und auch seine Körperhaltung oder seinen Bewegungsradius. Eine Gebärmutter wird ihm dadurch aber nicht wachsen. Was aber führt dazu, dass eine Gebärmutter in einem Körper entsteht?
Die grosse ungeklärte Frage ist und bleibt damit: Was, ausser kultureller Konstruktion (von der sie sich nicht lösen lässt) ist geschlechtsbezogene Materialität? Butler hat diese Frage aufgeworfen, ohne sie beantworten zu können. Denn was innerhalb der Körper passiert, stand für sie als Nicht-Naturwissenschaftlerin nicht im Fokus ihrer Forschungen. Ihr Interesse und ihre Möglichkeiten, auf den Geschlechtskörper zu rekurrieren, stoppten gewissermassen bei der erkenntnistheoretisch hoch relevanten Einsicht, dass wir die biologischen Körper, die wir erforschen, immer auch konstruieren. Das heisst aber nicht, dass alles, was über diese Konstruktionsprozesse hinausgeht, nicht auch von Gewicht wäre. Denn das, was „unter der Haut“, also physiologisch im Körper passiert, hat eine Eigenlogik, die umgekehrt auf soziale Konstruktionsprozesse einwirkt, und deshalb mit guten Gründen als aktiv und gestalterisch verstanden werden kann. Genderforscherinnen wie Donna Haraway betonen seit Jahren, wie wichtig es ist, Körper auch als Akteure zu verstehen. Genau diese „aktive Materie“ wird heute im Rahmen des „new materialism“, einem der dynamischsten Forschungsfelder der Gender Studies, intensiv erforscht.

Titelbild: Videostill aus "Donna Haraway reads 'National Geographic'", 1987. Quelle: www.cctv.org/watch-tv/programs/donna-haraway-reads-national-geographic-primates-ted-koppels-long-march-viewed-dan

Publikationsdatum:

18. Dezember 2017

Autor_innen:

Prof. Dr. Patricia Purtschert, Prof. Dr. Anelis Kaiser Trujillo