Nino Spycher, Mirjam Hornung agosto 2022
Neue Blogserie: Systemrelevante Arbeit?
Im Rahmen des Praxisseminars «Gender Perspectives on Paid and Unpaid Work in the Global South and Global North” im Frühlingssemester 2022 wurden von den Studierenden Blogbeiträge als Leistungsnachweis verfasst. Die Texte werfen einen Blick auf bezahlte und unbezahlte Carearbeit und bieten einen Einblick in verschiedene Lebensrealitäten. Die Intersektionalität der in den Berufsfeldern der Hebammen, Pflegefachpersonen und Sexarbeitenden tätigen Personen wird in den Interviews deutlich sichtbar gemacht, ebenso wie das Spannungsfeld zwischen bezahlter und unbezahlter Arbeit und politischem Engagement.
Im ersten Teil des Seminars nahmen die Studierenden an einem Massive Open Online Course der Universität Kathmandu teil, der sich mit der Arbeitswelt im globalen Süden befasst, wobei der Schwerpunkt auf den Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf bezahlte und unbezahlte Arbeit liegt. Die Blogbeiträge entstanden im zweiten Teil und reflektieren in den Interviews den im Seminar vermittelten theoretischen Rahmen und die Realitäten von Carearbeitenden im Globalen Norden.
Die Coronazeit war für viele Arbeiter:innen in «systemrelevanten» Berufen besonders anspruchsvoll. Insbesondere in Care-Berufen wurden die bereits vorhandenen Probleme noch einmal akzentuiert und verschärft. Dieser Blogbeitrag will aus der Perspektive einer ehemaligen Pflegefachfrau und Hebamme einige dieser Probleme beleuchten – und ihre Visionen für Veränderungen präsentieren.
An so manchen Frühlingsabenden 2020 ist von frisch bepflanzten Balkonen, aus schräggestellten Küchenfenstern und hinter kunstvoll geschnittenen Gartenhecken ein Klatschen zu hören. Lautstark soll die Dankbarkeit für die systemrelevante Arbeit bekundet werden, die im Kontext der Coronapandemie all jene Tätigkeiten umfasst, welche sowohl die gesellschaftliche Grundversorgung gewährleisten als auch die Wirtschaft aufrechterhalten. Insbesondere das Pflegepersonal steht diesbezüglich an vorderster Front und leistet ebendiese systemrelevante Arbeit. Wie aber stand es um die Arbeitsbedingungen der Pflegeberufe vor der Pandemie und was passiert eigentlich, wenn sowohl bezahlt wie unbezahlt gepflegt wird? Diesen und weiteren Fragen wollen wir in diesem Text zusammen mit Sabina (Name geändert) auf den Grund gehen. Mit 64 ist Sabina eine pensionierte Hebamme, Mutter zweier erwachsener Kinder und seit wenigen Jahren auch zweifache Grossmutter. Nachdem bei ihr Zuhause ihre Grossmutter von der Familie gepflegt wurde, war ihr bereits als 13-Jährige klar: «Das will ich auch, ich will Krankenschwester werden.» Nach einigen Jahren Berufspraxis mit Langzeitpatient:innen spürte Sabina jedoch vermehrt eine dunkle Wolke über sich und entschied sich kurzerhand dazu, den Beruf zu wechseln. Hebamme wollte sie sein, die Menschen während Ihrem Arbeitsalltag zum Lächeln bringen können.
Eine Rose zum Dank
Obschon sie während all den Jahren als Hebamme nie ihr Herzblut für diese Form der Care-Arbeit verloren hat, sind die Arbeitsbedingungen keinesfalls schönzureden: Zu wenig Mitarbeitende, kurzfristiges Einspringen, unregelmässige Arbeitszeiten, Nachtschichten und der knapp bemessene Lohn. Es verwundert deshalb kaum, dass Hebammen und Pflegefachpersonen eine innerhalb des Gesundheitssektors vergleichsweise tiefe Arbeitszufriedenheit sowie einen insgesamt schlechten Gesundheitszustand aufweisen, was nicht zuletzt dazu führt, dass über 40% der Hebammen ihren Beruf frühzeitig verlassen. Zu diesem Schluss kommt eine nationale Studie der Berner Fachhochschule, die zwischen 2017 und 2021 den Fachkräftemangel im Schweizer Gesundheitssektor evaluierte und langfristig gedachte Lösungsansätze erarbeitete. Des weiteren herrscht im Spital stets «allerbeste Zusammenarbeit, die klar geregelt ist», wobei neben dem Willen der gebärenden Person «der Arzt immer das letzte Wort hat». Demzufolge müssen oftmals Praktiken mitgetragen werden, welche die Hebamme selbst anders machen würde. Dem Kontext und Konzept des Spitals hat mensch sich als Hebamme unterzuordnen, was eine entsprechend resiliente Arbeitsweise abverlangt. Diese betriebliche Unterordnung von Hebammen und Pflegefachpersonen hierarchisiert den Spitalbetrieb. Noch immer ist die Mehrheit der Ärzt:innen männlich, die Mehrheit der Pflegefachpersonen und Hebammen weiblich. Diese Betriebsstruktur, wie sie auch Sabina beschreibt, ist ein klassisches Beispiel für vertikale Arbeitsmarktsegregation. Dabei nehmen innerhalb eines Betriebes die Männer mehrheitlich wichtigere Positionen ein, während Frauen untergeordnet bleiben.
Während der Pandemie wurden die Arbeitsverhältnisse zusätzlich erschwert: Personalausfälle und die vorgeschriebene Schutzkleidung aus Polyester liessen den Gebärsaal schwitzen. Von der gesellschaftlichen Dankbarkeit, die in der Coronazeit den systemrelevanten Arbeiter:innen galt, kam bei Sabina wenig an: «Ja, sie haben geklatscht, und kurze Zeit später haben sie uns die Garderobe verkleinert.» Ein Teil der Hebammengarderobe musste einer neuen Einrichtung für die Radiologie weichen. Aber auch das sei Sabina sich als Hebamme gewohnt: «Vielen wahnsinnig herzlichen Dank bekamen wir jeweils» – in einem geburtenreichen Jahr manchmal sogar zusammen mit einer langstieligen Rose. Es lag auch hie und da eine Lohnerhöhung drin. Einmal waren es 17 Franken mehr pro Monat. Mit einem Augenzwinkern fügt Sabina hinzu: «Immerhin, damit kannst du am Montag ins Kino gehen und dir dazu gleich noch ein Getränk gönnen.»
Mittlerweile stehen die jüngeren Mitarbeitenden stärker für sich ein, «nehmen sich mehr Raum, sind selbstliebender und frecher» anstatt sich bei Krankheitsgefühlen in aller Selbstverständlichkeit ein NeoCitran einzuwerfen, wie es bei Sabinas gleichaltrigen Kolleg:innen gängig war. Was blieb, sind die Arbeitszeiten und die Niedriglöhne, wogegen Sabina jahrzehntelang als aktives Gewerkschaftsmitglied ankämpfte. Ist die Büchse der Pandora aber einmal geöffnet und das gewerkschaftliche Wissen unter anderem durch wiederholte Lohnvergleiche vorhanden, müssen die Missstände wiederum wissentlich mitgetragen werden. Liegt der Fokus überwiegend auf den systemischen Mängeln, «ist es plötzlich so scheisse und dann musst du wieder davon weg. Sonst ist man einfach todunglücklich.» Ein Balanceakt ist erforderlich: Sich der Problematik bewusst sein, etwas dagegen tun und doch im bestehenden Kontext weiterarbeiten. Aber wer nimmt sich die Zeit? «Du kannst nicht Mutter sein, Hebamme, einen Haushalt führen und noch Wochenbett machen und dann noch… irgendwann ist das Mass voll.» Dies war mitunter der Grund, weshalb sich Sabina nach über dreissig Jahren politischem Engagement letztendlich aus der Gewerkschaft zurückgezogen hat. Der Beruf, die Familie und der gesellschaftspolitische Aktivismus sprengen den Rahmen des Möglichen.
Mehr Teilzeitarbeit für bessere Kinderbetreuung
Alleine das Ausüben bezahlter Care-Arbeit erfordert zwingend einen Ausgleich: «Du bist wie eine Spritzkanne. Die musst du wieder auffüllen können.» Es ist deshalb kein Zufall, dass Sabina sich die Arbeitsschicht stets rituell vom Leibe duschte. Denn danach erwartete sie die vielfältige Care-Arbeit ganz ohne finanzielle Entlohnung. Sabina musste für die Kinderbetreuung optimal organisiert sein. Als sie für ihr zweites Kind zunächst keinen Kitaplatz fand, spannte sie ihren Mann ein: «Ich liess […] meinen Mann unterschreiben, dass er immer, wenn ich arbeiten musste, das Kind hütet. Das war meine Sicherheit. Sonst hätte ich mich unwohl gefühlt.» Vor allem die unregelmässigen Arbeitszeiten und die Notwendigkeit für kurzfristiges Einspringen im Hebammenberuf machten die Kinderbetreuung oft zur Herkulesaufgabe. Insbesondere die Betreuungszeiten der Kitas seien nicht an die Bedürfnisse von Menschen in Pflegeberufen angepasst: «Ich war jeweils um viertel vor sechs fertig, dann rannte ich vom Frauenspital hoch in die Länggasse.» Oft musste eine Babysitterin die Kinder aus der Kita in der Länggasse holen, weil die Arbeit im Schichtbetrieb sich nicht mit den Kitaöffnungszeiten vereinbaren liess.
Heute ist Sabina auch als Grossmutter in die Betreuung ihrer Enkelkinder involviert. Allerdings ist sie froh, dass ihre Tochter weniger stark auf ihre Hilfe angewesen ist, wie sie selbst es gewesen wäre. Die Grosseltern von Sabinas Kindern konnten bei der Kinderbetreuung nicht helfen. Ihre Tochter hingegen «wäre strukturell nicht darauf angewiesen gewesen», sagt sie. «Das ist mal schön, man hat dann nicht das Gefühl, dass man muss.» Vor allem wenn man selber noch arbeite, könne das schwierig sein. Bezüglich der geplanten Erhöhung des Frauenrentenalters habe eine ältere Mitarbeiterin von ihr gesagt: «Lasst uns doch dieses Jahr noch, um die Grosskinder zu betreuen.» Wenn sie die Generation ihrer Tochter ansieht, erkennt sie bereits viele Veränderungen. Heute gebe es bessere Betreuungsangebote. Zudem könnten Männer mehr Teilzeit arbeiten. Auch das Bewusstsein habe sich verändert: «Früher wurde der Mann, der zuhause geblieben ist […] ein Bisschen belächelt. Und heutzutage siehst du im Stadtbild […] ganz alltägliche Herren, die den Kinderwagen schieben.» Dies verbessere auch die Beziehungen der Väter zu ihren Kindern – etwas, das sie auch bei ihrem Mann feststellt. Durch seine Verantwortung in der Kinderbetreuung habe er eine sehr gute Beziehung zu seinen Kindern. Früher hätten Väter durch die geschlechterbasierte Trennung von Familienleben und Beruf nicht so gute Beziehungen zu ihren Kindern gehabt, «weil sie wirklich immer, immer weg waren und die Frau immer zu Hause.»
Visionen für bessere Care-Arbeit
Trotz der Veränderungen im Verantwortungsbewusstsein gebe es noch immer viel zu tun. Im Gespräch hat Sabina oft ihre gesellschaftspolitischen Visionen erwähnt. Dazu gehört beispielsweise, dass Väter noch mehr Teilzeit arbeiten können – und dabei auch flexible Tage haben, gerade, um die flexiblen Arbeitszeiten in Pflegeberufen besser ausgleichen zu können. Zudem sollten Frauen, die früh Kinder haben, modular studieren könnten und dabei gute Unterstützung von Partner:innen und den Institutionen erhalten. So müssten sich Frauen nicht zuerst beruflich etablieren, sondern könnten dann Kinder haben, wenn sie es wollen. Im Allgemeinen wäre Sabina für die Einführung einer 36-Stunden-Woche – «das hätte man schon vor vierzig Jahren machen sollen.» Auch mehr Familienzeit, also eine längere Babypause und die Ausdehnung gesetzlicher Familienzeit auf Väter und Grosseltern. Spezifisch in Pflegeberufen ist Sabina für die Einführung eines Vierschichtbetriebs. Gekoppelt mit höheren Löhnen wäre dies in ihren Augen der Weg, um mehr Menschen – auch mehr Männer – für die Pflege zu begeistern, «weil es ist ein schöner Beruf, aber es ist einfach zu stressig.» Der tiefe Lohn halte viele davon ab, in einen Pflegeberuf einzusteigen. Sabina hat auch dafür eine Vision: Die Arbeit in der Pflege sollte «von Anfang an» gut bezahlt werden. Mit der Aussicht auf einen vollen Lohn würden sich in ihren Augen mehr Menschen für die Arbeit in Care-Berufen begeistern lassen.
Sabina freut sich, dass das Interesse an ihrem Berufsfeld durch die Pandemie gesteigert wurde. Das gehört bereits zu ihrer Vision dazu: «dass schon nur überhaupt irgendjemand fragt.» Nur durch die Beleuchtung des Themas könnten Verbesserungen überhaupt etabliert werden. Sie sieht die gesellschaftlichen Entwicklungen auf dem richtigen Weg, auch wenn vieles noch nicht erreicht ist. Denn man dürfe nicht vergessen: Das Frauenstimmrecht gebe es erst seit 1972. «Das ist einfach noch nicht lange her. Es ist noch nicht so lange her, da durften Frauen und Männer nicht unverheiratet zusammenwohnen. Das hat alles eine Tradition, und wir sind noch nicht so weit fortgeschritten […]. Es ist schwierig, eine Lösung aus dem Boden zu stampfen.» Zum Schluss des Gesprächs zeigt sich, dass Sabina auch nach der Pensionierung engagiert bleibt: «Jetzt muss ich rennen, damit ich noch rechtzeitig die Wochenbettpatientin besuchen kann.»
Date di pubblicazione:
24 agosto 2022
Discipline:
Autrici/autori:
Nino Spycher, Mirjam Hornung