Wie die Wissensanthropologie und die Social Studies of Science seit Jahrzehnten feststellen, beruht das moderne Wissen auf der Vorrangstellung des Visuellen und der visuellen Darstellung. Dies wird schon im wissenschaftlichen Vokabular mehr als deutlich: sichtbar machen, abbilden, darstellen, zeigen/weisen (Franz.: montrer), demonstrieren/beweisen (Franz.: dé-montrer), etc.). Was Wissen ist, wird also dadurch bestimmt, dass es in den Bereich des Sichtbaren fällt. Genauso basiert der Modus der Qualifizierung und Bewertung von Wissen auf Sichtbarmachung. Dem Sars-Cov-2-Virus ist beispielsweise erst dann der Aufstieg in den Status des Existierenden gelungen, als es über Kryoelektronenmikroskopie sichtbar wurde, dessen aerosole Verbreitung modelliert und Inzidenzgraphen, Animationen von Spikeproteinen sowie Fotos aus Intensivstationen zirkulierten und das Virus somit bildlich greifbar wurde.
Mehr noch: das Sehen (und damit das Wissen) ist auch immer direkt auf das engste mit Kontrollierbarkeit und Kontrolle verbunden. Auch hier kann das Sars-Cov-2-Virus als Beispiel dienen. Denn erst die Sichtbarmachung des Virus ermöglichte medizinische, sanitäre, institutionelle und politische Verwaltungs- und Kontrollmassnahmen wie die Entwicklung pharmakologischer Therapien sowie die Ausarbeitung von Grenzkontrollen und Reisebeschränkungen.
Doch hängt unser Verhältnis zur Welt wirklich allein von dem ab, was wir sehen und visualisieren können, wie es uns das moderne Wissen zu glauben vorgibt? Oder besteht die Welt im Gegenteil auch aus dem, was sich dem Blick entzieht, was nicht gesehen werden kann und will?
Dies sind genau die Fragen, die diese Vorlesung ansprechen möchte. Wir werden zum einen untersuchen, was alles im toten Winkel des modernen Wissens verbleibt und als unterworfene, amoderne Wissensformen verstanden werden kann. Mit anderen Worten: Die Vorlesung wird dem Nicht-Wissen nachgehen und sich fragen, welche Rolle es bei unseren Bindungen an die Welt spielt. Das können Wissensformen sein, die sich nicht auf die Vorherrschaft des Visuellen stützen (das Nicht-Sichtbare, das Intuitive, das Imaginäre, das Auditive, das Vibratorische, das Nicht-Diskutierbare), Wissensformen von marginalisierten Menschen und/oder nicht-menschlichen Lebensformen und Organismen, Maschinen und Algorithmen, aber auch Geister und Dämonen. Anders herum: Was würde eine „Wiederbelebung des toten Winkels“ – um es mit den Worten des Sciencefiction-Autor Alain Damasio zu sagen – für unsere Wissensherstellung, aber auch für unser Zusammenleben bedeuten? Welche Modi der Erkenntnis der Welt und damit unsere Modi der Beziehung zur Welt könnten neu definiert und erfahren werden?
Semestres:
Niveau:
MA, BA
Thèmes:
Disciplines:
Institutions:
ECTS:
2
Branches:
Anthropologie culturelle, Ethnologie, Etudes Genre