Manuel Niklaus octobre 2023
Soziale Mobilität - der Umgang mit dieser Thematik hat mich in den letzten Jahren frustriert, sowohl in privaten wie auch in akademischen Diskussionen. In persönlichen Gesprächen mit Freund*innen ist der gemeinsame Nenner meist schnell gefunden. Ziemlich bedenklich sei es etwa, dass ein so grosser Anteil derer, die Medizin studieren, Kinder von Ärzt*innen sind. Und in der soziologischen Debatte wird gerne darüber diskutiert, anhand welcher Variablen (Einkommen, Bildung, Status etc.) der Vergleich zwischen Eltern- und Kindergeneration vorgenommen werden soll, um möglichst aussagekräftige «Mobilitätsraten» zu erhalten. Beides sind Ausprägungen des gleichen Diskurses, welcher soziale Mobilität als durchwegs positive Kraft konstituiert. Je mobiler eine Gesellschaft, desto fairer und gerechter ist sie, so einfach die Rechnung. Klingt plausibel, alle sollen ihr Potenzial entfalten können. Und doch erschienen mir die Diskussionen stets scheinheilig. Denn sowohl im privaten wie auch im akademischen Kontext wurde dieser «progressive» Diskurs meist von Personen genährt, welche eine privilegierte Position in der Gesellschaft besetzen. Und von dieser Warte aus soziale Mobilität zu fordern, bedeutet nichts anderes, als bei den eigenen Kindern Abwärtsmobilität zu befürworten. Und schon klingt es selbst für die liberalsten Ohren nicht mehr so plausibel. Sind es nur scheinheilige Lippenbekenntnisse oder legitimiert dieser Diskurs die gesellschaftliche Ungleichheit, indem er mithilfe von abstrakt geführten Debatten von der Funktionsweise der Vererbung von Status und Macht ablenkt?
Bruch mit dem Common Sense
Mit «Give us a Break» bricht Paola De Martin ganz fundamental mit diesem abstrakten und unkritischen Diskurs und ermöglicht zu verstehen, wie sich in der Designszene Machtverhältnisse reproduzieren und welchen Formen von Gewalt Aufsteiger*innen ausgesetzt sind (teils ausgeübt von Personen, welche soziale Mobilität und Chancengleichheit gerne offenkundig befürworten). Die sozial Mobilen werden in diesem Buch nicht als Beweismittel für eine funktionierende Meritokratie instrumentalisiert, sondern fungieren vielmehr als «wandelnde Archive (S. 31)», in welchen die unsichtbaren und verschwiegenen Zumutungen des Aufstiegs körperlich und sinnlich abgespeichert sind. Ein Bruch mit dem wissenschaftlichen Common-Sense, welcher wohl erst durch den biografischen Zugang der Autorin möglich wird. Sozialisiert als Tochter von italienischen «Gastarbeiter*innen», gelang De Martin der Eintritt in Zürichs Designszene mit einem Studium in Textildesign und der Gründung eines eigenen Modelabels. In dieser Arbeit ergründet sie nun im Dialog mit anderen, ehemaligen Arbeiter*innenkindern, welche kollektiven Prozesse Aufsteiger*innen an den Rand, respektive wieder aus dem Feld des Designs, ver-/drängen. Dabei wird nach machtvollen und tabuisierten Strukturen geforscht, die prägend sind für die Beziehung zwischen früherem Selbst im Arbeiter*innenmilieu und neuem Selbst im Designfeld. Die Analyse dieser Beziehung beleuchtet jedoch nicht nur die Thematik der sozialen Mobilität kritisch, sondern bringt auch sehr pointierte Erkenntnisse zur Funktionsweise einer neoliberalen Rationalität ans Licht. Der soziale Wandel, weg von einem fordistischen Arbeitsverständnis (feste Anstellung, hohes Pensum, klare Trennung von Arbeit und Freizeit), hin zu einem Fokus auf Individualität, Authentizität und Flexibilisierung ab den 1970er Jahren, wurde insbesondere von der boomenden Kreativindustrie angetrieben. Wie De Martin festhält, haben die Kreativen nicht nur die früheren Arbeits- und Lebensräume der Arbeiter*innen in Beschlag genommen (Stichwort Gentrifizierung), sondern sich auch auf symbolischer Ebene an den subalternen Gesellschaftsschichten bereichert. Exemplarisch dafür steht die Modedesignerin Christa de Carouge. Hier verweist neben der Mode selbst («Baustellenlook»), bereits die Namensgebung des Labels auf die Bereicherung an der Arbeiter*innenklasse. «Carouge» in diesem Vorort von Genf, stand die grösste Barackensiedlung der Schweiz, «in welcher Saisonniers getrennt von ihren Ehefrauen und ihren Kindern unter menschenunwürdigen Verhältnissen lebten (S. 168)». Wie sich im Neoliberalismus die Sphäre der kulturellen Produktion verstärkt auch als Produktionsort der gesellschaftlichen Ungleichheit offenbart, ist eine der zentralen Einsichten, welche die Lektüre dieses Buches bereithält. Eine Einsicht, ermöglicht durch die aussergewöhnliche Fähigkeit der Autorin, subjektive Erfahrungen des Aufstiegs mit objektiven Bedingungen der gesellschaftlichen Transformation zu verknüpfen. Es handelt sich somit um eine Fallstudie, deren Erkenntnisgewinn auch für alle ausserhalb von Zürichs Designszene von Interesse sein muss.
Symbolische Ausbeutung
Diese Geschichte des «Uncommon Sense (S. 289)» gliedert sich in drei Teile, in welchen je eine Biographie ausführlich diskutiert wird (darunter auch diejenige der Autorin selbst), während die Analyse von drei weiteren Aufsteiger*innen ins Designfeld an passenden Stellen eingeflochten wird. Spezielles Augenmerk wird dabei auf Habitusbrüche gerichtet. Ein Konzept, welches zwar von Pierre Bourdieu übernommen wird («gespaltener Habitus» heisst es bei ihm), durch dieses Buch entsteht jedoch der Eindruck, dass Bourdieu den Brüchen mit dem primären Habitus deutlich zu wenig Aufmerksamkeit schenkte. Warum das Feld des Designs für Aufsteiger*innen so anziehend und gleichzeitig auch so abstossend ist, ist dabei die Frage, an welcher sich De Martin orientiert. Im Folgenden werde ich versuchen, einige der zentralen Antworten, welche «Give us a Break» auf knapp 500 Seiten dazu bereithält, zu skizzieren.
Die Attraktivität der Designszene für Aufsteiger*innen kann als Folge des illusio-Effektes begriffen werden. Es entsteht der kollektive Glaube daran, dass es in diesem Feld um «die gute Gestaltung von funktionellen und schönen Dingen für die serielle Produktion (S. 32)» geht. Ein Glaube, der das Versprechen mit sich bringt, selbst dazu beitragen zu können, die Spannung zwischen Designszene und Herkunftsmilieu zu entschärfen und somit verkennen lässt, dass legitimes Designen im Neoliberalismus nicht ohne abwertenden Urteile gegenüber der eigenen sozialen Herkunft auskommt. Dies verdeutlicht die Autorin an zahlreichen Beispielen. Die psychologische Fixierung der Szene auf unterprivilegierte Gesellschaftsschichten wird etwa deutlich an der Beliebtheit des Begriffs «schräg». So wurden ab den späten 1980er Jahren kulturelle Phänomene bezeichnet, welche ausserhalb der Zentren für Wissensproduktion und mit Vorzug in den Arbeiter*innenmilieus entstanden. Die gierige Suche nach sogenannt «schrägen Trophäen» in den Quartieren, in welchen die Autorin sozialisiert worden war, kam einer symbolischen Erotisierung und gleichzeitigen Dämonisierung ihrer Herkunft gleich. Wenn ganz selbstverständliche Dinge, vom neuen Umfeld als schräg bezeichnet werden, wird der innere Kompass brüchig (De Martin’s prägnante Beschreibung für einen Habitusbruch), was insbesondere mit starken Schamgefühlen einhergeht. Diesen Kreislauf der symbolischen Ausbeutung, in welchem gewisse Anteile der Arbeiter*innen integriert und andere abgespalten werden, macht folgendes Zitat deutlich: «Da sie (die Geschmackspräferenzen der Arbeiter*innenmilieus, Anm. d. Verf.) stets mit einer spielerischen Nonchalance angenommen und wieder verworfen wurden, wurden sie zu einer Art billigem ästhetischen Rohstoff, aus dem die Kultivierten einen Mehrwert schöpfen konnten, der den Rohstofflieferanten niemals zugutekam (S. 166)».
Neoliberale Normativität und ihre Zumutungen
In Anlehnung an Frantz Fanon’s Kritik an der geforderten Anpassung von Schwarzen Menschen an eine von weissen Kolonialherren definierte Normativität in «Black Skin, White Masks» spricht De Martin beim (durch das Designfeld geprägten) Sekundärhabitus von einer «Klassenmaske der Anpassung (S. 178)». Denn auch die Bildungsnormativität einer gehobenen Klasse erzeugt einen Druck sich anzupassen, welcher mit einer Spaltung und Herabsetzung des früheren Selbst einhergeht. Die drei im Fokus stehenden Biografien decken die Subfelder Textildesign, Fotografie und Industrial Design sowie drei Generationen (Geburtsjahr: 1965, 1952, 1993) ab. Entsprechend unterscheiden sich auch die von der Designszene geforderten Klassenmasken der Anpassung, respektive die habituellen Irritationen, welche dieser Druck auslöst.
Die erste Biografie verweist insbesondere auf den Bruch mit dem habituellen Körperwissen, durch ein neoliberales Arbeitsverständnis. In der immateriellen Produktion gibt ab den 1990er Jahren eine «Pflicht zum Genuss (S. 270)» und entsprechend werden Partys und Spass haben als legitime Form des Arbeitens verstanden, was nicht mit einem, durch den primären Habitus verinnerlichten, Reflex zur Tüchtigkeit in Einklang zu bringen ist. Im Bereich der Fotografie, welcher durch den zweiten Teil beleuchtet wird, ist es vor allem ein von der postmodernen Avantgarde ausgehender Paradigmenwechsel, weg von einem dokumentarischen, sozialen Realismus, hin zu einem sozialen Zynismus, welcher zur sozialen Exklusion derjenigen führt, welche es als Verrat an der eigenen Herkunft erleben würden, diesen Distinktionsanforderungen gerecht zu werden. Solidarische Dispositionen eines ethischen orientierten Habitus verlieren also ab den späten 1980er Jahren abrupt ihre Passung mit einem Feld, welches zunehmend eine ästhetisierte Form der «kalten Beziehung», gegenüber unterprivilegierten Menschen einzunehmen beginnt. Wie De Martin treffend festhält, handelt es sich dabei um nichts anderes als «eine Beziehung der Herrschenden zu sich selbst, die liebevoll im Interesse der Besitzstandswahrung gepflegt wird (S. 281)». Im dritten Teil wird die symbolische Ausbeutung von Arbeiter*innenmilieus mit einer postkolonialen Kritik an der Designszene verwoben. Denn trotz offizieller Bejahung von Diversität, gibt es einen feinen Unterschied zwischen einer anerkannten und einer nicht anerkannten Art, «divers» zu sein. Das koloniale Wissensarchiv mit anderen zu teilen, stellt in einem Feld, «das durchdrungen ist von der Macht einer postkolonialen Normativität (S. 343)», keine legitime Option dar. Stattdessen wird es in den 2010er Jahren zur Pflicht, eine widerstandslose, «glatte» Diversität zu repräsentieren und alles, was an den Differenzen auf Widersprüche und Kämpfe verweist, wird ausgelöscht. Sich gegen diese Zumutungen zu wehren, gleicht einem Kampf mit Gespenstern, denn «wie reden gegen die herrschenden Diskurse, wenn sie so vielfältig und positiv divers sind (S. 409)»?
Ausweg aus dem Labyrinth der Scham
Es ist beeindruckend, wie De Martin anhand dieser Biografien aufzeigen kann, dass ein Aufstieg in die Designszene die Verinnerlichung von ästhetischem Herrschaftswissen mit sich bringt, was zwangsläufig zur Abspaltung der dadurch als schmutzig empfundenen Anteile der eigenen Herkunft führt. Sie macht damit deutlich, dass das Designfeld von patriarchalen, kolonialrassistischen und klassenspezifischen Strukturen durchdrungen ist und vertreibt die Geister einer neutralen illusio. Erst durch diese fulminante Entblössung der konkreten Entstehung von Ungleichheit, erscheinen die Hierarchien nicht länger als natürlich gegebene Folge von Talent. Es ist ein Bruch mit dem kollektiven Schweigen und der Versiegelung von subalternen Perspektiven. Ein Bruch, der notwendigerweise auch spekulativer Interpretationen bedarf, da es gerade darum geht, nicht den vorgefertigten Interpretationen des Common Sense auf den Leim zu gehen. Während die für eine wissenschaftliche Analyse oft ungewohnt gewagten Betrachtungsweisen zuweilen irritieren, ist es in zahlreichen Passagen genau diese unkonventionelle Herangehensweise, welche emanzipative Effekte für die Reflexion der eigenen Biografie mit sich bringt. Eines der Ziele, die Paola De Martin mit diesem Buch zu erreichen versucht, ist über die kollektive, reflektierte, heilsame Distanz der Sprache einen Ausweg aus dem Labyrinth der sozialen Scham aufzuzeigen (S. 288). Es ist nicht beim Versuch geblieben. «Give us a Break» ist ein flammender Protest gegen die vielen Formen klassistischer Gewalt.
Date de publication:
17 octobre 2023
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Auteur·e:
Manuel Niklaus