#4: «Eine intersektionale Perspektive auf (un-)bezahlte Arbeit»

(in)égalité

Lara Rufibach, Rea Pirani août 2022

Neue Blogserie: Systemrelevante Arbeit?

Im Rahmen des Praxisseminars «Gender Perspectives on Paid and Unpaid Work in the Global South and Global North” im Frühlingssemester 2022 wurden von den Studierenden Blogbeiträge als Leistungsnachweis verfasst. Die Texte werfen einen Blick auf bezahlte und unbezahlte Carearbeit und bieten einen Einblick in verschiedene Lebensrealitäten. Die Intersektionalität der in den Berufsfeldern der Hebammen, Pflegefachpersonen und Sexarbeitenden tätigen Personen wird in den Interviews deutlich sichtbar gemacht, ebenso wie das Spannungsfeld zwischen bezahlter und unbezahlter Arbeit und politischem Engagement.

Im ersten Teil des Seminars nahmen die Studierenden an einem Massive Open Online Course der Universität Kathmandu teil, der sich mit der Arbeitswelt im globalen Süden befasst, wobei der Schwerpunkt auf den Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf bezahlte und unbezahlte Arbeit liegt. Die Blogbeiträge entstanden im zweiten Teil und reflektieren in den Interviews den im Seminar vermittelten theoretischen Rahmen und die Realitäten von Carearbeitenden im Globalen Norden.

Simpson, J. (2009). Everyone belongs: A toolkit for applying intersectionality. Canadian Research Institute for the Advancement of Women (CRIAW).

Er ist männlich, arbeitet in einem weiblich konnotierten, systemrelevanten Beruf, hat einen Migrationshintergrund und ein Kind: Das ist Miguel. In diesem Blogbeitrag haben wir ein Interview mit ihm geführt um herauszufinden, wie er selbst den Einfluss dieser Faktoren auf sein Leben und seine Arbeit beurteilt und wie er damit umgeht.

Arbeit prägt unser aller Leben, aber was ist Arbeit eigentlich genau? Nach dem «Dritt-Personen-Kriterium» umfasst Arbeit alle Tätigkeiten, die eine Drittperson gegen Bezahlung leisten könnte. Ob die Arbeit effektiv bezahlt oder unbezahlt geleistet wird, tritt durch den Konjunktiv in den Hintergrund. Und doch ist die Unterscheidung bezahlter und unbezahlter Arbeit relevant, da die Verteilung, wer wie viel und welche (un-)bezahlte Arbeit leistet, reale Konsequenzen hat und Ungleichheiten auslösen kann. In der Betrachtung von ungleichen Lebensbedingungen bietet sich ein intersektionaler Zugang besonders an. Ausgangspunkt ist dabei die Annahme, dass Menschen immer mehreren Kategorien gleichzeitig angehören. Diese verschiedenen Zugehörigkeiten können sich überschneiden und in spezifischen Herausforderungen – also mehr als reine Additionen - resultieren.

Geht es um Intersektionalität, wird es schnell theoretisch und abstrakt. Um dem entgegenzuwirken, haben wir exemplarisch ein Interview geführt, um die Intersektionalität einer Arbeitssituation anhand von gelebter Erfahrung aufzuzeigen.

Unser Interviewpartner Miguel

Miguel (Name geändert), männlich gelesen, stammt ursprünglich aus Mexiko und lebt seit 7 Jahren in der Schweiz. Bevor er in die Schweiz kam, lebte er einige Jahre als Sans-Papier in Spanien. Dort hat er seine Partnerin, welche Schweizerin ist, kennengelernt. Miguel hat im Verlauf seines Lebens in diversen Bereichen Erwerbsarbeit geleistet und arbeitet nach dem Absolvieren des SRK Pflegehelfendenkurses in einer Institution für körperlich beeinträchtigte Menschen. Neben seiner 80% Anstellung kümmert er sich um seinen Sohn.

Miguel wurde von uns dazu aufgefordert, von seinem Leben, seiner Erwerbsarbeit und der unbezahlten Arbeit zu erzählen. In einem zweiten Schritt wurden spezifische Fragen zu möglichen intersektionalen Faktoren in Miguels Leben gestellt.

Migration und ihre Folgen

Ein Faktor, welcher sich durch das Leben von Miguel und somit auch durch das ganze Interview zieht, ist Migration in ihren verschiedenen Facetten. Aufgrund fehlender Dokumente bleibt ihm in Spanien einzig der Ausweg in eine illegalisierte Tätigkeit. Die Arbeit besteht in der privaten Betreuung und Pflege eines Jungen mit körperlicher Beeinträchtigung. Die Arbeitstage sind lang, die Bezahlung schlecht und nur der Sonntag bleibt zur Erholung. Die Mutter des Jungen ist sich der Freundschaft zwischen Miguel und ihrem Sohn bewusst und zählt deshalb darauf, dass Miguel sich, wenn nötig, auch in seinen Pausen um ihren Sohn kümmert und somit zusätzlich unbezahlte Care-Arbeit leistet. Miguel sagt dazu: “Me parecía injusto porque aprovechaba mi situación porque ella veía que yo quería al hijo.” (“Das erschien mir ungerecht, weil sie meine Situation ausnutzte, weil sie sah, dass ich den Jungen gern hatte.”). Ohne Arbeitsvertrag und Aufenthaltsbewilligung kann sich Miguel nicht gegen die Ausbeutung wehren.

In Spanien lernt er seine zukünftige Partnerin kennen. Die beiden stehen fünf Jahre via E-Mail in Kontakt und treffen sich mehrmals in Spanien, bis seine Partnerin schwanger wird. Um zu ihr in die Schweiz zu reisen, braucht Miguel ein spanisches Ausweisdokument. Sein Antrag darauf wird drei Mal abgelehnt, obwohl er ein Recht darauf hätte. Bis kurz vor dem Geburtstermin des gemeinsamen Kindes wartet er auf das fehlende Dokument und sieht seine Partnerin nur über Skype. Als der Geburtstermin bevorsteht, kann er nicht mehr länger zuwarten und reist ohne das Dokument mit dem Zug in die Schweiz ein, um bei der Geburt seines Kindes dabei sein zu können. Warum sein Antrag in Spanien drei Mal abgelehnt wurde, weiss er bis heute nicht.

In der Schweiz angekommen, wollen Miguel und seine Partnerin heiraten, wodurch er eine Aufenthaltsbewilligung erhalten würde. Da er aber illegal eingereist ist, fehlen ihm die nötigen Papiere für eine Eheschliessung. Wie er im Interview erzählt, zögern die Behörden, ihm die benötigte Zustimmung zu erteilen, da sie ihn zunächst für einen Drogendealer aus Mexiko halten. Mit Hilfe einer gemeinnützigen Organisation schaffen es die beiden schlussendlich, zu heiraten. In der Schweiz besitzt Miguel zwar eine Aufenthaltsbewilligung und einen Arbeitsvertrag und ist vergleichsweise zufrieden mit seinem Lohn. Seine Migrationsgeschichte hat aber auch in der Schweiz vielfältige Auswirkungen auf sein Leben.

Miguel erzählt immer wieder von Schwierigkeiten aufgrund seiner Sprachkenntnisse: “El idioma es lo que más me ha costado. [...] Es lo que a veces me limita un poco en mi trabajo. Yo pienso que si yo pudiera hablar perfecto el Alemán entonces podría estudiar muchas cosas.” (“Die Sprache war für mich das Schwierigste. [...] Das schränkt mich manchmal ein bisschen ein in meiner Arbeit. Ich denke, wenn ich perfekt Deutsch sprechen könnte, dann könnte ich eine Menge Dinge lernen.”) Die Sprache und dabei besonders die fehlende Kompetenz im Schriftlichen, nennt Miguel als Hauptgrund, weshalb er noch keine Weiterbildung oder Berufslehre absolviert hat. Mehrmals erwähnt Miguel in seinen Erzählungen also, wie die Kategorie [SAT(1] Migration seine Arbeitssituation beeinflusst.

Arbeit und Geld - untrennbar verbunden

Ein weiterer Faktor, welcher Miguel oft erwähnt, ist der sozioökonomische Status. Er erzählt, dass er gerne weniger Erwerbsarbeit und dafür mehr unbezahlte Arbeit in Form von Betreuung seines Kindes leisten möchte. Dies ist mit seinem aktuellen Gehalt jedoch finanziell nicht möglich. Gleichzeitig ist für Miguel ein höherer Bildungsabschluss, welcher zu mehr Lohn führen könnte, aufgrund der oben erwähnten Sprachkompetenzen im Moment keine Option. Es wird deutlich, wie die Achsen der Migration und des sozioökonomischen Status hier zusammenkommen.

Sorgearbeit - ein Frauenthema?

Die Tatsache, dass Miguel als Mann in einem eher weiblich konnotierten Beruf arbeitet und er in einem Team arbeitet, in dem mehrheitlich Frauen sind, spiele für ihn keine Rolle. Auch im Umgang mit den Bewohnenden spüre er keine Ungleichbehandlung aufgrund seines Geschlechts: “Para mi es normal. Osea, no lo veo que sea un trabajo de mujeres solo, no. Osea, a mi la necesidad me llevó a ese trabajo pero yo siempre quería ayudar a la gente [...] pero no veo que sea un trabajo solo de mujeres… es un trabajo.”. (“Für mich ist das normal. Ich meine, ich sehe es nicht als einen Job nur für Frauen, nein. Ich meine, die Not hat mich zu diesem Job geführt, aber ich wollte schon immer den Leuten helfen [...] Ich betrachte das nicht als einen Beruf nur für Frauen… es ist einfach ein Beruf.”). Auf Nachfrage, wie Miguel und seine Partnerin unbezahlte Betreuungs- und Hausarbeit teilen und wie er das in Bezug auf das Geschlecht einschätzt, antwortet er: “Igual. Es igual para mi. Los hombres tambien lavamos platos y limpiamos. [...] No es que sea un trabajo de hombres o mujeres. Son trabajos no mas.” (“Ausgeglichen. Es ist ausgeglichen für mich. Männer waschen auch ab und putzen. [...] Es ist nicht so, dass es eine Männer- oder eine Frauenarbeit ist. Es sind einfach Arbeiten.”) Organisatorische Arbeiten, wie die Betreuungsplanung des Kindes, die Teilnahme an Elterngesprächen oder das Ausfüllen offizieller Dokumente, werden zum grossen Teil von seiner Partnerin übernommen. Miguel sieht in seinen Sprachkompetenzen und Migrationsgeschichte den Grund für diese Aufteilung. Er betont: “Si estuviéramos en México sería del otro lado y yo tendría que hacer todo ese trabajo.” (“Wären wir in Mexiko, wäre es anders herum und ich würde diese Arbeiten übernehmen.”).

Intersektionalität und ihre Dimensionen

Durch die Erzählungen von Miguel wird deutlich, dass Intersektionalität ein multidimensionales Konzept darstellt. Simpson (2009) hat hierfür das Intersectionality Wheel erstellt:

Im inneren grünen Kreis sind die verschiedenen Merkmalszugehörigkeiten einer Person aufgeführt. Bei einer Analyse ist dabei eine zeitliche Perspektive von Vorteil, da sich diese Merkmale verändern können. Erst durch die Umwelt jedoch, bei Simpsons im blauen Kreis dargestellt, werden diese Merkmalszugehörigkeiten zu Vor- oder Nachteilen. So wird Miguels mexikanischer Pass erst in Spanien (und später dann in der Schweiz) zu einem Problem. Anhand des Intersectionality Wheels lassen sich diese Ebenen genauer betrachten. Es wird deutlich, dass die Benachteiligungen aus gesellschaftlichen Strukturen hervorgehen und sich nicht direkt aus individuellen Merkmalen erklären lassen. Auch hier ist eine zeitliche Perspektive wichtig: Miguels Umwelt hat sich zum Beispiel durch die Migration immer wieder verändert.

Weiter wird bei Miguels Geschichte der Einfluss seiner Persönlichkeit auf die Wahrnehmung seines Lebens deutlich. Bei Simpson wird im innersten Kreis die «Identity» angesprochen. Im Fall von Miguel fällt auf, wie oft er betont, dass Schwierigkeiten in seinem Leben mit ihm selbst zu tun haben und nicht mit seiner Umwelt. Diese Einstellung hat einen zentralen Einfluss auf die Wahrnehmung seines Lebens. Strukturelle Ungleichheiten, welchen er in seinem Leben begegnet, treten gegenüber seiner eigenen Handlungsfähigkeit in den Hintergrund: “Cuando yo estoy en situaciones que me estresan las veo como un challenge. Voy y me relajo y veo que pasa. O también lo que hago es ser más amable o preguntar cosas y así  puedo hacer que la gente cambie su forma de ser conmigo.” (“Wenn ich in Situationen bin, die mich stressen, sehe ich sie als Herausforderung an. Ich gehe, entspanne mich und schaue, was passiert. Oder ich bin einfach netter oder stelle Fragen und kann so die Leute dazu bringen, ihr Verhalten mir gegenüber zu ändern.”). 

Die intersektionale Komplexität eines Lebenslaufs kann nicht im Rahmen eines Blogeintrags erfasst werden. Wir hoffen jedoch, dass es uns gelungen ist, einen Ansatz zu bieten. Miguels Erzählungen verdeutlichen, wie sich verschiedene Merkmalszugehörigkeiten in einem Leben kreuzen, miteinander interagieren und sich auch verändern. Befasst man sich mit der (un-)bezahlten Arbeitssituation einer Person, sollten diese Intersektionalitäten mitgedacht werden.

Date de publication:

14 août 2022

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Auteur·e·s:

Lara Rufibach, Rea Pirani