Geschlecht und Sexualität sind seit jeher Gegenstand vielfältiger Prozesse der Transition und Transformation. Von vermeintlich eindeutigen Geschlechtertransitionen reichen sie bis hin zu subtilen Alltagspraktiken, die auf die Materialität des Geschlechtskörpers einwirken. Transgeschlechtliche Menschen befinden sich etwa in sozialen, körperlichen und juristischen Übergängen, die über eine lineare Bewegung von einem Geschlecht zu einem anderen hinausgehen mögen. Das neue Selbstbestimmungsgesetz rückt dabei Fragen zur Ermöglichung und Begrenzung der Gestaltbarkeit und Gestaltungsmacht von Geschlecht ins Zentrum. Intergeschlechtliche Menschen hingegen wurden im frühen Kindesalter lange Zeit Zwangstransformationen ihres Geschlechtskörpers ausgesetzt. Diese zurichtenden, medizinischen Eingriffe werden erst seit 2021 auch rechtlich infrage gestellt. Gesellschaftlich bleiben sowohl Legitimität als auch Notwendigkeit von Geschlechtsveränderungen vielfach umkämpft.
Jenseits der problematisierten Geschlechtertransitionen prägen unzählige, vermeintlich unumstrittene Alltagshandlungen die Transformation von Geschlecht: vom Auftragen von MakeUp über Körperformung im Fitnessstudio bis hin zu Mutter-Kind-Kuren, Retreats oder Karrierecoachings für weibliche Führungskräfte. Auch Sexualität ist Gegenstand von Transformationsbemühungen, sei es durch – mittlerweile größtenteils verbotene – ‚Konversionstherapien‘, Sexual- und Paartherapien oder Präventionsprogramme. Gemeinsam ist diesen Phänomenen die Annahme eines defizitären Ausgangszustandes, der durch Transitionsprozesse zu verändern wäre – mit dem Ziel gesteigerter Gesundheit, Attraktivität, Lebensfreude und Funktionalität, der Konsolidierung von Identität oder emotionaler Balance. Geschlecht und Sexualität werden dabei zunehmend als verfügbar und individuell verantwortbar konzipiert. Implizit fließen sie in Krankheits- oder Störungsbilder sowie in Vorstellungen von Gesundheit, Erfolg, Schönheit und Glück ein. Diese Prozesse vereinen befreiende, emanzipatorische, aber auch restriktive und normierende Momente.
In der Sektionsveranstaltung möchten wir diese Ambivalenzen beleuchten und laden Beiträge ein, die die Dynamiken und Implikationen von Veränderungsprozessen untersuchen – empirisch, theoretisch oder methodologisch. Mögliche Fragestellungen sind:
- Welche gesellschaftlichen Prozesse auf diskursiver, juristischer und organisatorischer Ebene (z.B. auch Bestimmungen zu Toiletten und Umkleiden) sind derzeit zu beobachten, in denen sich Vorstellungen, Zuschreibungen und Lebensweisen von Geschlecht wandeln?
- Welche Konzepte von Geschlecht und Sexualität liegen Transformationsprozessen zugrunde? Wie werden körperliche und soziale Aspekte wandelnder Geschlechtlichkeit und Sexualität konzipiert?
- Welche Formen der Transition oder Transformation werden angestrebt, welche verworfen? Welche Veränderungsdynamiken sind zu beobachten?
- Welche subjektive Bedeutung haben Transformationsprozesse von Geschlecht und Sexualität für Individuen und deren Subjektivierung?
Wir bitten um die Einreichung von Beitragsvorschlägen (auch über die genannten Forschungsfragen hinausgehend) in Form von Abstracts, (maximal eine Seite) bis zum 31.03.2025 an: brodersengender.uni-kielde, robin.saalfelduni-jenade und corinna.schmechel@uni-goettingen.de
Organisation: Corinna Schmechel (Georg-August-Universität Göttingen), Robin Saalfeld (Friedrich-Schiller-Universität Jena) und Folke Brodersen (Christian-Albrechts-Universität zu Kiel)
Publication Date:
28 January 2025
Deadline:
31 March 2025
Themes: