Simone Marti, Simone Suter October 2018
Seit Jahrhunderten, so Winfried Kronig in einem Referat über die Selektionsmechanismen des Bildungssystems, warte die Gesellschaft auf eine bessere Schule. Und umgekehrt warte die Schule ebenso lange auf eine bessere Gesellschaft (Kronig 2009). Dieses wechselseitige Spannungsverhältnis zeigt sich im Umgang mit Geschlechterverhältnissen in der Schule sowie in Pädagogischen Hochschulen. Im Folgenden erörtern wir diese Bedingungs- und Abhängigkeitsverhältnisse und thematisieren wie Geschlecht und Geschlechterverhältnisse in der Schule wirken.
Schule geht täglich mit den herrschenden gesellschaftlichen (Geschlechter)Verhältnissen um. Sie spiegelt sie, prägt, verändert oder verstärkt sie und dies mit einer grossen Unmittelbarkeit und Reichweite. Denn zum einen müssen/dürfen alle die Schule durchlaufen und viele erleben sie zudem indirekt als Bezugspersonen von Schüler*innen. Zum anderen erfüllt Schule als Bildungsort gesellschaftliche Funktionen. Bildung ist nicht nur Zweck an sich, auch wenn diese Vorstellung durchaus in den aktuellen Lehrplänen verankert ist und im Unterricht gestaltend wirkt. Schule nimmt auch gesellschaftliche Funktionen wahr: Als pädagogische Institution übernimmt sie die Aufgabe, die heranwachsende Generation an die herrschenden gesellschaftlichen Werte und Normen heranzuführen und einzupassen. So zum Beispiel an die Vorstellungen der Legitimität des herrschenden politischen Systems einer Demokratie, auch wenn nicht alle gleich darin vertreten sind (Hedtke 2015). Weiter ist die Schule eine mächtige Verteilungsinstanz für soziale und berufliche Positionen (vgl. Fend 2006; Sturm 2016) und legitimiert mit Bezugnahme auf das meritokratische Prinzip die herrschende Ordnung und die darin vorkommenden Ungleichheiten.
Geschlecht macht Arbeit
Dass und wie die Schule ihren Beitrag zur Reproduktion geschlechtsspezifischer sozialer Ungleichheiten leistet, wird mit Blick auf die herrschenden Geschlechterverhältnisse im Bereich der (Lohn-)Arbeit sichtbar. In der Vergangenheit waren die Zuweisungs- und Zuschreibungsprozesse der Bildungsinstitutionen offensichtlich: So war der Lehrberuf eine der ersten Berufsausbildungen, die sich für Frauen (aus Bildungsbürgertum oder wohlhabenden Mittelstand) öffnete. Er wurde für Frauen als geeignet angesehen, da die Ausbildung Frauen gleichzeitig auch zu ihrem „natürlichen Beruf“ als Hausfrau und Mutter hinführte. Eine weitere Berufsausbildung, zu der in der Schweiz Frauen zugelassen wurden, war die Pflegeausbildung (EKF: 2009). Die Zuschreibungen von Eignungen im Sinne der Ideologie einer heteronormativen Zweigeschlechtlichkeit waren in die Berufsbildung eingeschrieben.
Heute ist die Angelegenheit komplexer. Die Bildungsinstitutionen sind für alle Geschlechter offen. Und auch hier zeigen sich weiterhin vergeschlechtlichte und vergeschlechtlichende Ausbildungsgänge, oft mit weniger offensichtlichen Hürden. Die herrschenden Formen der Arbeitsteilung – inklusive der nicht entlohnten Care-Arbeit – sind vergeschlechtlicht und gehen mit sozialen Ungleichheiten einher. Letztere zeigen sich im Bereich der Erwerbsarbeit etwa auf den Lohnabrechnungen: Frauen verdienen durchschnittlich jeden Monat 1800 Franken weniger als Männer. Davon sind 37% nicht erklärte Unterschiede, die als sogenannt „volkswirtschaftlicher Diskriminierungseffekt“ auf 7,7 Milliarden Franken pro Jahr geschätzt (Bundesamt für Statistik, Büro für Gleichstellung 2013) und von Frauen getragen werden.
Trotz der formalen Öffnung der Zugänge sind Männer noch immer häufiger in Ausbildungsgängen und Berufen vertreten, die in der Schule den so genannten MINT-Fächern entsprechen (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) und von Mädchen weniger häufig gewählt werden (Ausnahmen: Biologie und Chemie). Derweil sind 80% aller in sozialen und pflegenden Berufen Arbeitenden Frauen (Bundesamt für Statistik 2016), die oft schlechter bezahlt sind. Evaluiert mensch Teilzeiterwerbstätige nach Geschlecht, stellt sich heraus, dass über 50% der Frauen Teilzeit arbeiten, bei den Männer sind es zwischen 10 und 20% (Arbeitskräfteerhebung BfS: 2018). Die Gründe sind auch hier wiederum vielfältig: Teilzeitstellen sind bei technischen Berufen signifikant seltener. Oder: Teilzeitarbeit gilt als unvereinbar mit Karriereplänen. Aber vor allem: Sowohl bezahlte als auch unbezahlte Care- und Hausarbeit ist im Jahr 2018 immer noch Frauensache. Das Volumen dieser sogenannt ‚unbezahlten Arbeit‘ betrug in der Schweiz 2013 8,7 Milliarden Stunden (14% mehr Zeit als für bezahlte Arbeit), und rund zwei Drittel der unbezahlten Care-Arbeit wird von Frauen geleistet (Magazin Perspektiven: 2017).
Schule macht Geschlecht
Kinder kommen zur Schule und bringen sich ein mit ihren Geschlechtervorstellungen und -praktiken. Zu den Alltagsbeobachtungen von Lehrpersonen gehört, dass Mädchen häufiger Prinzessinnen sein wollen, Jungen Feuerwehrmänner. Mädchen spielen (mit) Einhörner(n), Jungen mit Traktoren. Jungen, so die häufige Annahme, seien technikaffiner, Mädchen interessierter im Lesen. Genauer betrachtet lassen sich aber in den jeweiligen Fächern so grosse Überschneidungen in Interessen, Kompetenzen und Leistung messen, dass die Unterschiede innerhalb eines Geschlechts oft grösser sind als die Differenzen zwischen Jungen und Mädchen. Nichtsdestotrotz ziehen Lehrpersonen oder Fachdidaktiker*innen und Pädagog*innen häufig die Annahme, dass die Lerninteressen von Jungen und Mädchen eben verschieden, Jungen halt eher an Maschinen und technischen Fragen und Mädchen eher an Phantasiewelten interessiert seien – entsprechend werden sie mit dem Ziel der Leseförderung mit je spezifischen Büchern und Lernmaterialien bedient (Riegraf 2016). So sind bei Robotern, die im Fach Informatik vorgestellt werden, die rosafarbenen, glitzernden mit den grossen Augen dann spezifisch für Mädchen und nicht für Jungen gedacht.
Auch im Verhalten von Lehrpersonen zeigen sich unbewusst stereotype Geschlechtervorstellungen die ihre Praxis beeinflussen. So erinnert sich Lotte Rajalin, eine schwedische Kindergärtnerin und Pionierin bewusst geschlechterreflektiert gestalteter Bildungseinrichtungen an die Anfänge ihres Umdenkens. Im Kindergartenteam hätten sie Videoanalysen angeschaut. Dies war in den 1990er-Jahren. Alle erschraken: „Wir setzten beispielsweise voraus, dass Jungen einen grösseren Bewegungsdrang haben. Wenn wir mit der Gruppe nach draussen gingen, haben wir deshalb zuerst den Jungen beim Anziehen geholfen. So lernten die Mädchen zu warten (...). Dagegen haben wir Mädchen länger getröstet, wenn sie hingefallen sind – fast zu lange. Und wir haben sie öfter ermahnt, still zu sitzen. Wir haben unbewusst Geschlechterrollen verstärkt.“ (Rajalin 2012). Jungen erhalten immer noch mehr Aufmerksamkeit von Lehrpersonen (unabhängig deren Geschlechts) und Mädchen mehr Lob für Fleiss und Ordentlichkeit als für gute Leistungen. Zudem ist das Selbstvertrauen in die intellektuellen Fähigkeiten bei Mädchen nach wie vor niedriger als bei Jungen. Folge: Mädchen engagieren sich schulisch mehr, was das Stereotyp des fleissigen Mädchens und dem begabten, aber faulen Jungen verstärkt (Rentorff 2016). Im Handlungsfeld Bildung des Nationalen Forschungsprogramms „Gleichstellung der Geschlechter“ (NFP 60, 2014) war deshalb Ausgangspunkt und zugleich Resultat der Forschungen, dass in der Schule nach wie vor Praktiken und Lehrmittel gängig seien, die Kindern geschlechterstereotype Vorstellungen von "weiblichem" beziehungsweise "männlichem" Verhalten vermitteln. Dem Anliegen der Gleichstellung komme im Schulalltag ein zu geringer Stellenwert zu, da die Meinung vorherrsche, Gleichstellung sei bereits realisiert.
Schule macht Gesellschaft
Was tun? Und weshalb überhaupt? Die Strukturkategorie Geschlecht beruht auf Ungleichheit und die Geschlechterverhältnisse berufen sich auf eine konstruierte Binarität und daran anhaftende Normen, die Zwang ausüben. Deshalb gilt es, in der Schule Geschlechterverhältnisse und Geschlecht zu thematisieren und zu verändern. Denn, trotz allem: Schule macht auch Gesellschaft, schafft Veränderung. Schule ist auch ein Raum der Möglichkeiten, der sich jedoch nicht ohne Widersprüche erschliessen lässt. In der geschlechterreflektierenden Pädagogik benennt Katharina Debus das Dilemma, mit dem ein Umgang gefunden werden muss: „Durch das Aufzeigen der gesellschaftlichen Wirkmächtigkeit der sozialen Kategorie Geschlecht wird die Kategorie Geschlecht gewichtet, obwohl ich sie eigentlich auflösen möchte“ (Debus 2017). Darin enthalten ist die allgemeine Herausforderung im schulischen Kontext Differenzen anzuerkennen, ohne Hierarchien und Kategorien zu reproduzieren, aber auch ohne Machtverhältnisse zu leugnen (Mecheril, Plössner 2009). Ein Beispiel: Unterschiedliche(-s) Lieben werden im Unterricht thematisiert. Die Lehrperson verkündet, dass alle diese Lieben gleichwertig seien. Dies ist richtig. Jedoch ist es für Luise, die in Selma neben ihr verliebt ist, eine andere Herausforderung, diese Liebe zu benennen und zu leben, als für Heidi, die in Peter verliebt ist (vgl. abq.ch). Die Verkündung von Vielfalt, ohne die Ungleichheiten mitzudenken, zu thematisieren und anzuerkennen, verschleiert die gesellschaftlich geprägten individuellen Herausforderungen.
Für Lehrpersonen bedeutet geschlechterreflektierter Unterricht deshalb erstens, dass die Interaktionen mit den Schüler*innen und ihren strukturierten und strukturierenden Geschlechterpraktiken und -vorstellungen bewusst gestaltet werden müssen und sollen. Zweitens bedarf es eines analytischen Blicks auf Bildungsinhalte und -prozesse. Drittens sind Lehrpersonen selber mit ihren eigenen schulischen Erfahrungen, ihrer Geschlechtlichkeit, ihren Vorstellungen über und ihr eigenes Eingebundensein in Geschlechterverhältnisse konfrontiert.
Raum der Möglichkeiten
Eine geschlechterreflektierte Bildung hat unserem Verständnis nach zwei zentrale Aspekte: Es braucht ein Erkennen der eigenen (angehenden) Rolle in Bezug auf Geschlechterbilder und der eigenen stereotypisierten und -typisierenden Praxis. Diese Reflexion gehört zum Prozess der Professionalisierung. Sie bedarf zudem eines Repertoires unterschiedlicher Methoden, die Geschlecht bewusst sowohl „dramatisieren“, „entdramatisieren“ als auch „nicht-dramatisieren“ können (Debus 2017). Konkret bedeutet dies, dass ich als Pädagogin unterschiedliche Methoden kenne und diese situativ anwenden kann. Es gibt Situationen, in denen eine „Dramatisierung“, also Thematisierung von Geschlecht sinnvoll ist – etwa wenn ich über die ungleichen Lohnverhältnisse sprechen möchte. In anderen Situationen hingegen muss die Betonung von Geschlecht kontextualisiert, also „entdramatisiert“ werden, um sichtbar zu machen, dass es auch andere soziale Kategorien gibt, die ungleiche Löhne verursachen. Eine „Entdramatisierung“ ist auch deshalb wichtig, weil sonst vermittelt würde, dass Jungen so und Mädchen anders sind und die Vielfalt innerhalb der gewaltvollen binären Kategorie Geschlecht nicht sichtbar und damit Vielfalt nicht anerkannt werden kann. Eine nicht-dramatisierende Herangehensweise kommt in verschiedenen pädagogischen Kontexten zum Tragen. Geschlecht ist hierbei einer von vielen Analyseansätzen, der in einem Raum beginnt, „in dem Geschlecht (noch oder derzeit) nicht als zentral gesetzt ist“ (Debus 2012), aber in Bezug auf die Thematik einfliesst. Beruf in der Mittelstufe beispielsweise kann nicht ohne den Aspekt der Geschlechterdifferenzen und zugleich Fragen gesellschaftlicher Arbeitsteilung und Machtverhältnisse thematisiert werden, sie muss in intersektionaler Perspektive betrachtet werden.
Schule wartet auf eine bessere Gesellschaft. Schule macht aber, so hoffen wir als Arbeitnehmerinnen in einer Bildungsinstitution, auch Gesellschaft. Im besten Fall eine freiere – durch die gezielte Förderung individueller Vielfalt und bewusst divers gestalteter Schulen in einem gesellschaftlichen Raum der Möglichkeiten.
Publication Date:
29 October 2018
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Authors:
Simone Marti, Simone Suter