#3: «Einblicke in den Arbeitsalltag einer Hebamme»

In/Equalities

Agnieszka Szymczyk, Moira Ettlin August 2022

Neue Blogserie: Systemrelevante Arbeit?

Im Rahmen des Praxisseminars «Gender Perspectives on Paid and Unpaid Work in the Global South and Global North” im Frühlingssemester 2022 wurden von den Studierenden Blogbeiträge als Leistungsnachweis verfasst. Die Texte werfen einen Blick auf bezahlte und unbezahlte Carearbeit und bieten einen Einblick in verschiedene Lebensrealitäten. Die Intersektionalität der in den Berufsfeldern der Hebammen, Pflegefachpersonen und Sexarbeitenden tätigen Personen wird in den Interviews deutlich sichtbar gemacht, ebenso wie das Spannungsfeld zwischen bezahlter und unbezahlter Arbeit und politischem Engagement.

Im ersten Teil des Seminars nahmen die Studierenden an einem Massive Open Online Course der Universität Kathmandu teil, der sich mit der Arbeitswelt im globalen Süden befasst, wobei der Schwerpunkt auf den Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf bezahlte und unbezahlte Arbeit liegt. Die Blogbeiträge entstanden im zweiten Teil und reflektieren in den Interviews den im Seminar vermittelten theoretischen Rahmen und die Realitäten von Carearbeitenden im Globalen Norden.

Quelle: Foto von Christian Bowen auf unsplash.com

«Einblicke in den Arbeitsalltag einer Hebamme: Zwischen Geburten, Care-Arbeit und COVID-19»

In einem Gespräch mit S. erhalten wir Einblick in den Arbeitsalltag einer Hebamme in einer Gebärabteilung einer Schweizer Klinik. Ein Beruf, der in der Schweiz fast ausschliesslich von Frauen ausgeübt wird. S. ist eine junge, alleinerziehende Mutter, die Lohn- und Care-Arbeit verrichtet. Sie erzählt uns von den damit verbundenen Herausforderungen und inwiefern sich diese durch die COVID-19-Pandemie verschärft haben.

Geschlechterspezifische Segregation des Arbeitsmarkts

Eine geschlechterspezifische Segregation des Arbeitsmarkts ist insbesondere im Gesundheitswesen erkennbar. Auffallend ist dabei sowohl eine vertikale wie auch eine horizontale Segregation. Einerseits ist eine Überrepräsentation von Frauen in tendenziell geringbezahlten medizinischen Fachbereichen zu konstatieren (horizontal), andererseits nimmt der Frauenanteil mit steigender Hierarchiestufe ab (vertikal). Obwohl sich in der Schweiz in den letzten zehn Jahren eine sogenannte «Feminisierung der Humanmedizin» abzeichnet, bleiben je nach Fachgebiet grosse Unterschiede bestehen. Dementsprechend belief sich in der Schweiz im Jahr 2018 der Frauenanteil in der Gynäkologie und der Geburtshilfe auf 84%, in der Kinder- und Jugendmedizin auf 79% und in der Kinder- und Jugendpsychiatrie auf 77%. Wie lässt sich diese überproportionale Repräsentation von Frauen in bestimmten Fachgebieten erklären?

Die Hebamme – ein typisch weiblicher Beruf?

Zu den sogenannten «typisch weiblichen Berufen» zählt im Gesundheitswesen die Berufsgruppe der Hebammen. Bereits die Bezeichnung «Hebamme» scheint das Bild einer Frau zu evozieren und trägt allenfalls zur Verfestigung der Vorstellung eines vermeintlich weiblichen Berufes bei. Versuche, eine genderneutrale Bezeichnung zu etablieren gestalten sich jedoch als schwierig, denn die Alternativen scheinen nicht vollends zufriedenstellend. Bezeichnungen wie Geburtshelfer:in oder Entbindungspfleger:in werden dem gesamten Spektrum der Arbeit eine:r Hebamme nicht gerecht. Ein:e Hebamme betreut nicht nur die Gebärenden während des Geburtsprozesses, er:sie begleitet ebenfalls die Schwangeren und ihr:e Partner:in während der Schwangerschaft. Auch im Wochenbett und während der Stillzeit steht die Hebamme Mutter und Kind zur Seite. Sie unterstützt zudem Schwangere und ihre Partner:innen, die sich mit Fragen rund um einen Schwangerschaftsabbruch befassen und betreut auch Geburtsverluste, erklärt uns die Hebamme S..

Obwohl die Extremsituationen rundum Geburt, Leben und Tod mit einer überdurchschnittlich hohen psychischen und physischen Belastung einhergehen, ist die Nachfrage nach Ausbildungsplätzen für den Studiengang der Hebamme in der Schweiz exponentiell ansteigend. Zu den Interessent:innen zählen auch gegenwärtig noch beinahe ausschliesslich Frauen. Weshalb ist der Beruf Hebamme trotz einer hohen Arbeitsbelastung besonders attraktiv für Frauen? S. erläutert, dass die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben zu den wesentlichen Gründen zählt, weshalb sie sich für die Ausbildung zur Hebamme entschieden hat. Als Hebamme kann Teilzeit gearbeitet werden und die Arbeitszeiten sind grundsätzlich geregelt. Obwohl es nicht selten vorkommt, dass Überstunden geleistet werden, sollte eine Schicht acht Stunden dauern. Dies macht die Arbeit planbar und damit auch besser vereinbar mit dem Privatleben. Laut S. hat in der Klinik die grosse Mehrzahl der Hebammen Kinder und leistet somit nebst der Lohnarbeit auch unbezahlte Care-Arbeit. Dies verlangt nach Organisation und fordert gute Möglichkeiten der Kinderbetreuung. Wenn Nachtdienste geleistet werden, muss sich S. als alleinerziehende Mutter besonders organisieren. Ein gutes Netzwerk ist gefragt. S. schildert, dass sie anfangs Gewissensbisse hatte, als sie ihr Kind während der Nachtschichten zu Freund:innen geben musste, aber mit der Zeit habe sich dies gelegt, schliesslich leistet S. mit ihrer Arbeit einen wertvollen Beitrag für die Gesellschaft. Die Mehrbelastung durch Care-Arbeit und Lohnarbeit spürt S. besonders, wenn sie Nachtdienste hat. Dann bleibt häufig einiges liegen und der Haushalt muss warten. S. schläft dann tagsüber und versucht am Nachmittag die noch wenige Zeit mit ihrem Kind zu verbringen, bevor sie die nächste Nachtschicht antritt. Obwohl S. Teilzeit arbeitet, nutzt sie ihren freien Tag in der Regel zum Schlafen. Die hohe Arbeitsbelastung zieht sich über die reguläre Arbeitszeit hinaus.

Hohe Arbeitsbelastung und zunehmende Ökonomisierung des Gesundheitswesens

Seitdem das neue Wirtschaftlichkeitsgebot im Jahre 1996 vom Bundesrat beschlossen wurde, leidet das Schweizer Gesundheitswesen unter den Zwängen des neoliberalen Wirtschaftmodells. Die Folgen der Ökonomisierung der Medizin spüren nicht nur die Arbeitnehmenden sondern ebenfalls die Patient:innen. Aufgrund vom Effizienzgebot, der Kostenopimierung und des erhöhten Leistungsdrucks bleibt immer weniger Zeit für sie übrig. Dies bekommen in der Entbindungsklinik auch die Gebärenden zu spüren. So beschreibt S.: «Die Belastung ist sehr hoch. Hebamme ist deswegen ein besonderer Beruf, weil die Kinder kommen, wann sie wollen. Deshalb gibt es Peaks, Phasen, an denen wir am Anschlag laufen, trotzdem ist es so, dass wir von Anfang an wissen, dass eine Hebamme mehr als nur eine Frau betreuen muss. Es sind weniger Hebammen eingestellt als es Zimmer hat. Das führt immer wieder dazu, dass Frauen in Krisen, die viel Betreuung brauchen, alleingelassen werden müssen. Die Leidtragenden sind am Ende die gebärenden Frauen. Wenn wir darüber reden, was denn am Ende der Schicht das Schlimme war, wenn es wirklich eine anstrengende Schicht war, dann sagen oft die Hebammen, schlimm war nicht, dass ich nicht geschafft habe Mittag zu essen, oder dass ich nicht getrunken habe, dass ich es nicht auf die Toilette geschafft habe, schlimm ist für uns immer zu wissen, eine Frau war allein, man konnte der Frau nicht die Aufmerksamkeit geben, die sie eigentlich gebraucht hätte.»

Eine Zuspitzung der Arbeitsbelastung war unter COVID-19 zu spüren.

Und dann kam COVID
Am 11. März 2020 hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die globale COVID-19-Pandemie ausgerufen. Es begann eine Krise, die nicht nur eine Gesundheitskrise war, sondern auch eine sozioökonomische Krise, von der nicht alle Menschen in gleichem Ausmass betroffen waren (Kabeer et al. 2021). Frauen arbeiten häufiger als Männer in Sektoren, die besonders stark betroffen waren von Schliessungen, was in vielen Ländern zu einer höheren Anzahl an Arbeitsverlusten bei Frauen geführt hat als bei Männern. Gleichzeitig arbeiten Frauen auch häufiger in sogenannt systemrelevanten Berufen, wo sie einem besonderen Ansteckungsrisiko ausgesetzt sind. Wie bereits erwähnt arbeiten als Hebamme in der Schweiz fast ausschliesslich Frauen, im Jahr 2018 zählte der Schweizerische Hebammenverband zwei männliche Geburtshelfer (Kündig und Graf 2018). Auf der Station von S. wurde während der ersten COVID-Welle im Frühjahr 2020 von einem Dreischichtbetrieb auf einen Zweischichtbetrieb umgestellt, was zur Folge hatte, dass die Hebammen 12-Stunden-Schichten antraten. S. beschreibt, dass dies sehr einschneidend war, insbesondere weil der Wechsel sehr kurzfristig eingeführt wurde.

S. erzählt ausführlich von der zunehmenden psychische Belastung unter den Schwangeren während der Pandemie und wie dies auch ihre persönliche Arbeitsbelastung erhöht hat. Insbesondere mit der Einstufung von Schwangeren als Risikopatient:innen seien viele Ängste einhergegangen und S. beobachtete, dass die Sprechstundenzeiten für die Schwangerschaftskontrollen zu kurz geplant waren, um sich den zusätzlichen Ängsten aufgrund von COVID-19 annehmen zu können.

Es gab auch Frauen, da habe ich gesehen, die laufen in eine Schwangerschaftsdepression hinein, wo ich sie viel zu wenig auffangen konnte. […] Da weiss ich noch, das hat mich extrem traurig gemacht. Ich bin an diesen Tagen oft länger geblieben, weil so eine Depression kann auch gefährlich werden.

Aus Hebammenperspektive hätte es jedoch auch Massnahmen gegeben, die den Betrieb auf der Station durchaus positiv veränderten. So hätten die Besuchseinschränkungen sehr viel Ruhe auf die Wochenbettstation gebracht, sowohl für die Eltern als auch für die Hebammen.

Alleinerziehend während einer Pandemie
Die Massnahmen, um die Verbreitung von COVID-19 zu verringern, bedeuteten in vielen Ländern einen Anstieg an anfallender Carearbeit (Kabeer et al. 2021). Durch Lockdowns und Schulschliessungen, Anordnungen, zu Hause zu bleiben, aber auch pflegebedürftige COVID-Erkrankte, Ausfälle in Kitas und von sonstigen Betreuungspersonen, waren insbesondere Frauen mit noch mehr unbezahlter Arbeit konfrontiert als dies bereits zu nicht-pandemischen Zeiten der Fall ist. Während dies für Familien mit Kindern generell eine hohe Belastung bedeutete, war sie für Alleinerziehende besonders hoch.

Als während der ersten Welle die Schulen geschlossen waren, bedeutete das für S., dass sie zusätzlich zu ihren 80% Teilzeitarbeitstätigkeit die Betreuung ihres Kindes rund um die Uhr sicherstellen musste. Wie stark unsere Gesellschaft auf das Modell der Kleinfamilie ausgerichtet ist, hat sich in dieser Zeit in sehr zugespitzter Form gezeigt. S. erzählt, wie sie sich schliesslich mit zwei weiteren Familien in ihrem Umfeld zusammengetan hat, und sie ihre Dienste so geplant hatten, dass die Kinder immer von einer der drei Familien betreut werden konnten. “Aber das hat auch dazu geführt, dass ich entweder geschlafen, gearbeitet oder drei zusätzliche Kinder betreut habe”. In dieser Zeit sei es auch sehr schwierig gewesen für sie, in ihrem persönlichen Netzwerk nach Hilfe zu fragen. Es standen nicht genügend COVID-Tests zur Verfügung und sie konnte nie sicher sein, dass sie oder ihr Kind nicht ansteckend sind. “Irgendwann kam dann ein Notfallbetreuungsangebot [von Seite des Arbeitgebers], aber da hatte ich mich schon organisiert”. Auch die konstante Angst, sie oder ihr Kind könnten erkranken, was zur Folge hätte, dass sie für zehn Dienste ausfallen würde und sie jemand ersetzen müsste, sei mit hohem Stress verbunden gewesen.

S. beschreibt schliesslich eindrücklich:

Ich finde es schon verrückt, dass in einem Haus [ihr Arbeitsort] in dem so viele Frauen arbeiten, niemand gefragt hat “hey, wo sind eigentlich eure Kinder?” als die Schulen geschlossen waren. […]. Von keiner Seite kam “wo ist dein Kind, wie machst du das?” Auch nicht von der Schule”.

Literaturhinweise

Publication Date:

02 August 2022

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Authors:

Agnieszka Szymczyk, Moira Ettlin